Geister durch euch, durch eure Barbarei vorzeitig erstickt, verbraucht, erloschen sind? Wie, ihr dürftet ohne Scham an Lessing denken, der an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zu Grunde gieng, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmann’s Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befrein, bei den Jesuiten um Hülfe betteln gieng, dessen schmählicher Übertritt auf euch zurückfällt und an euch als unvertilgbarer Flecken haften wird? Ihr dürftet gar Schiller’s Namen nennen und könnt nicht erröthen? Seht sein Bild euch an! Das entzündet funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödtlich geröthete Wange – das sagt euch Nichts? Da hattet ihr so ein herrliches und göttliches Spielzeug, das durch euch zertrümmert wurde. Und nehmt noch Goethe’s Freundschaft aus diesem schwermüthig hastigen, zu Tode gehetzten Leben hinweg – an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller verlöschen zu machen. Bei Keinem unserer großen Genien habt ihr mitgeholfen – und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß Keinem mehr geholfen werde? Aber für Jeden wäret ihr, bis diesen Augenblick, der »Widerstand der dumpfen Welt«, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für Jeden wäret ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstsüchtigen. Trotz euch schufen Jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe und Dank euch starben sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen zerbrochen oder betäubt, dahin. Wer kann ausdenken, was diesen heroischen Männern zu erreichen beschieden war, wenn jener wahre deutsche Geist in einer kräftigen Institution sein schützendes Dach über sie ausgebreitet hätte, jener Geist, der ohne eine solche Institution vereinzelt, zerbröckelt, entartet sein Dasein weiterschleppt. Alle jene Männer sind zu Grunde gerichtet: und es gehört ein tollgewordener Glaube an die Vernünftigkeit alles Geschehenden dazu, um mit ihm eure Schuld entschuldigen zu wollen. Und nicht jene Männer allein! Aus allen Bereichen intellektueller Auszeichnung treten die Ankläger gegen euch auf: mag ich auf alle die dichterischen oder philosophischen oder malerischen oder plastischen Begabungen hinsehn und nicht nur auf die Begabungen des höchsten Grades, überall bemerke ich das nicht Reifgewordene, das Überreizte oder zu früh Erschlaffte, das vor der Blüthe Versengte oder Erfrorene, überall wittere ich jenen »Widerstand der stumpfen Welt«, das heißt eure Verschuldung. Was will es besagen, wenn ich nach Bildungsanstalten verlange und den Zustand Derer, die sich so nennen, erbarmungswürdig finde. Wer dies ein »ideales Verlangen« und überhaupt »ideal« zu nennen beliebt und wohl gar damit wie mit einem Lobe mich abzufinden meint, dem diene zur Antwort, daß das Vorhandene einfach eine Gemeinheit und eine Schmach ist, und daß, wer in klapperdürrem Frost nach Wärme verlangt, wild werden muß, wenn man dies ein »ideales Verlangen« nennt. Hier handelt es sich um, lauter aufdringliche, gegenwärtige, augenscheinliche Wirklichkeiten: wer etwas davon fühlt, der weiß, daß es hier eine Noth giebt, wie Frost und Hunger. Wer aber nichts davon fühlt – nun, der hat dann wenigstens einen Maßstab, um zu messen, wo Das aufhört, was ich »Bildung« nenne, und bei welchen Quadern der Pyramide sich die Sphäre, die von unten, und die andere, die von oben beherrscht wird, scheidet.«
Der Philosoph schien sich sehr erhitzt zu haben: wir forderten ihn auf, wieder etwas herumzugehn, während er seine letzten Reden stehend, in der Nähe jenes Baumstumpfes, der uns als Zielscheibe für unsere Pistolenkünste diente, gesprochen hatte. Es wurde für eine Zeit unter uns ganz still. Langsam und nachdenklich schritten wir auf und ab. Wir empfanden viel weniger Beschämung, so thörichte Argumente vorgebracht zu haben, als eine gewisse Restitution unserer Persönlichkeit: gerade nach den erhitzten und für uns nicht schmeichelhaften Anreden glaubten wir uns dem Philosophen näher, ja persönlicher gestellt zu fühlen. Denn so elend ist der Mensch, daß er durch Nichts einem Fremden so schnell nahe kommt, als wenn dieser eine Schwäche, einen Defekt merken läßt. Daß unser Philosoph erhitzt wurde und Schimpfworte gebrauchte, überbrückte etwas die bisher allein empfundene scheue Ehrerbietung; für Den, der eine solche Beobachtung empörend findet, sei hinzugesetzt, daß diese Brücke oftmals von der entfernten Verehrung zur persönlichen Liebe und zum Mitleiden führt. Und dieses Mitleiden trat, nach jenem Gefühl der Restitution unserer Persönlichkeit, allmählich immer stärker hervor. Wozu fühlten wir den alten Mann hier nächtlicher Weile zwischen Baum und Fels herum? Und da er dies uns nachgegeben hatte, warum fanden wir nicht eine ruhigere und bescheidenere Form uns belehren zu lassen, warum mußten wir zu Drei in so ungeschickter Weise unsern Widerspruch äußern?
Denn jetzt merkten wir es bereits, wie unbedacht, unvorbereitet und unerfahren unsere Einwendungen waren, wie sehr gerade in ihnen das Echo der Gegenwart wiederklang, deren Stimme der Alte nun einmal im Bereiche der Bildung nicht hören mochte. Unsere Einwendungen waren überdies nicht eigentlich rein aus dem Intellekte entsprungen: der Grund, der durch die Reden des Philosophen erregt und zum Widerstand gereizt war, schien anderswo zu liegen. Vielleicht sprach aus uns nur die instinktive Angst, ob gerade unsere Individuen bei solchen Ansichten, wie sie der Philosoph hatte, vortheilhaft bedacht seien, vielleicht drängten sich alle jene früheren Einbildungen, die wir uns über unsere eigene Bildung gemacht hatten, jetzt zu der Noth zusammen, um jeden Preis Gründe gegen eine Betrachtungsart zu finden, durch die allerdings unser vermeintlicher Anspruch auf Bildung recht gründlich abgewiesen wurde. Mit Gegnern aber, die so persönlich die Wucht einer Argumentation empfinden, soll man nicht streiten; oder wie die Moral für unsern Fall lauten würde: solche Gegner sollen nicht streiten, sollen nicht widersprechen.
So giengen wir neben dem Philosophen her, beschämt, mitleidig, unzufrieden mit uns und mehr als je überzeugt, daß der Greis Recht haben müsse, und daß wir ihm Unrecht gethan hätten. Wie weit zurück lag jetzt der Jugendtraum unserer Bildungsanstalt, wie deutlich erkannten wir die Gefahr, an der wir bisher nur durch einen Zufall vorbeigeschlüpft waren, uns nämlich mit Haut und Haar dem Bildungswesen zu verlaufen, das von jenen Knabenjahren an, bereits aus unserm Gymnasium heraus, verlockend zu uns gesprochen hatte! Worin lag es doch, daß wir noch nicht im öffentlichen Chorus seiner Bewunderer standen? Vielleicht nur darin, daß wir noch wirkliche Studenten waren, daß wir uns noch, aus dem gierigen Haschen und Drängen, aus dem rastlosen und sich überstürzenden Wellenschlag der Öffentlichkeit, auf jene bald nun auch weggeschwemmte Insel zurückziehn konnten!