Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


Скачать книгу

Vor­trag

      (Ge­hal­ten am 23. März 1872.)

      Mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer! Wenn Das, was ich Ih­nen von den man­nig­fal­tig er­reg­ten, in nächt­li­cher Stil­le ge­führ­ten Re­den un­se­res Phi­lo­so­phen er­zählt habe, mit ei­ni­gem Mit­ge­fühl von Ih­nen auf­ge­nom­men ist, so dürf­te Sie die zu­letzt be­rich­te­te un­muthi­ge Ent­schlie­ßung des­sel­ben in ähn­li­cher Wei­se ge­trof­fen ha­ben, wie sie uns da­mals traf. Plötz­lich näm­lich kün­dig­te er uns an, daß er ge­hen wol­le: im Stich ge­las­sen von sei­nem Freun­de und we­nig er­quickt von Dem, was wir, sammt sei­nem Beglei­ter, ihm in sol­cher Ein­öde ent­ge­gen­zu­brin­gen wuß­ten, schi­en er nun has­tig den nutz­los ver­län­ger­ten Auf­ent­halt auf dem Ber­ge ab­bre­chen zu wol­len. Der Tag durf­te ihm als ver­lo­ren gel­ten: und ihn gleich­sam von sich ab­schüt­telnd hät­te er ge­wiß auch gern das An­den­ken an un­se­re Be­kannt­schaft ihm hin­ter­drein wer­fen mö­gen. Und so trieb er uns un­wil­lig an zu ge­hen, als ein neu­es Phä­no­men ihn zum Still­ste­hen zwang, und der be­reits er­ho­be­ne Fuß sich wie­der zö­gernd senk­te.

      Ein far­bi­ger Licht­schein und ein knat­tern­des schnell ver­hal­len­des Ge­tö­se, aus der Ge­gend des Rheins her, bann­te un­se­re Auf­merk­sam­keit; und gleich dar­auf zog sich eine lang­sa­me me­lo­di­sche Phra­se, im Ein­klan­ge, doch durch zahl­rei­che ju­gend­li­che Stim­men ver­stärkt, aus der Fer­ne zu uns her­über. »Dies ist ja sein Si­gnal,« rief der Phi­lo­soph, »mein Freund kommt doch noch, und ich habe nicht um­sonst ge­war­tet. Es wird ein mit­ter­nächt­li­ches Wie­der­se­hen – wie mel­den wir ihm doch, daß ich jetzt noch hier bin? Auf! Ihr Pis­to­len­schüt­zen, jetzt zeigt eure Küns­te ein­mal! Hört ihr den stren­gen Ryth­mus je­ner uns be­grü­ßen­den Me­lo­die? Die­sen Ryth­mus merkt euch und wie­der­holt ihn in der Rei­hen­fol­ge eu­rer Ex­plo­sio­nen!«

      Dies war eine Auf­ga­be nach un­se­rem Ge­schmack und un­se­rer Fä­hig­keit; wir lu­den so schnell wie mög­lich und nach kur­z­er Ver­stän­di­gung er­ho­ben wir un­se­re Pis­to­len nach der von Ster­nen durch­leuch­te­ten Höhe, wäh­rend jene ein­dring­li­che Ton­fol­ge in der Tie­fe, nach kur­z­er Wie­der­ho­lung, erstarb. Der ers­te, der zwei­te und drit­te Schuß gien­gen schnei­dig in die Nacht hin­aus – jetzt schrie der Phi­lo­soph: »Fal­scher Takt!« denn plötz­lich wa­ren wir un­se­rer ryth­mi­schen Auf­ga­be un­treu ge­wor­den: eine Stern­schnup­pe kam, un­mit­tel­bar nach dem drit­ten Schuß, pfeil­schnell her­un­ter­ge­flo­gen und fast un­will­kür­lich er­tön­te der vier­te und fünf­te Schuß zu­gleich, in der Rich­tung ih­res Nie­der­falls.

      »Fal­scher Takt!« schrie der Phi­lo­soph, »wer heißt euch nach Stern­schnup­pen zu zie­len! Das platzt schon von selbst, ohne euch; man muß wis­sen, was man will, wenn man mit Waf­fen han­tirt.«

      In die­sem Au­gen­bli­cke wie­der­hol­te sich, vom Rhei­ne her her­über­ge­tra­gen, jene, jetzt von zahl­rei­che­ren und lau­te­ren Stim­men in­to­nir­te Me­lo­die. »Man hat uns doch ver­stan­den«, rief la­chend mein Freund, »und wer kann auch wi­der­ste­hen, wenn so ein leuch­ten­des Ge­s­penst ge­ra­de in Schuß­wei­te kommt?« – »Still!« un­ter­brach ihn der Beglei­ter, »was mag das für ein Schwarm sein, der uns dies Si­gnal ent­ge­gen­singt! Ich rat­he auf zwan­zig bis vier­zig Stim­men, kräf­ti­ge männ­li­che Stim­men – und von wo aus be­grüßt uns je­ner Schwarm? Er scheint noch nicht das jen­sei­ti­ge Ufer des Rheins ver­las­sen zu ha­ben – doch das müs­sen wir ja se­hen kön­nen, von un­se­rer Bank aus. Kom­men Sie schnell da­hin!«

      An der Stel­le näm­lich, auf der wir bis jetzt auf- und ab­ge­gan­gen wa­ren, in der Nähe je­nes ge­wal­ti­gen Baum­stump­fes, war die Aus­sicht nach dem Rhei­ne zu durch das dich­te fins­te­re und hohe Ge­hölz ab­ge­schnit­ten. Da­ge­gen habe ich er­zählt, daß man von je­nem Ru­he­platz aus, et­was tiefer als die ebe­ne Flä­che auf der Höhe des Ber­ges, einen Durch­blick durch die Baum­gip­fel hin­durch hat­te und daß ge­ra­de der Rhein, mit der In­sel Non­nen­wörth im Arme, den Mit­tel­punkt des ge­run­de­ten Aus­schnit­tes für den Be­schau­er aus­füll­te. Wir lie­fen ei­lig, doch mit Vor­sicht für den grei­fen Phi­lo­so­phen, nach die­sem Ru­he­plät­ze hin: es war schwar­ze Dun­kel­heit im Wal­de, und den Phi­lo­so­phen rechts und links ge­lei­tend, er­rie­then wir mehr den ge­bahn­ten Weg, als daß wir ihn wahr­nah­men.

      Kaum hat­ten wir die Bän­ke er­reicht, als uns ein feu­ri­ges, trü­bes, brei­tes und un­ru­hi­ges Leuch­ten, of­fen­bar von der an­de­ren Sei­te des Rhei­nes her, in’s Auge fiel. »Das sind Fa­ckeln«, rief ich; »Nichts ist si­che­rer, als daß dort drü­ben mei­ne Ka­me­ra­den aus Bonn sind und daß Ihr Freund in ih­rer Mit­te sein muß. Die­se ha­ben ge­sun­gen, die­se wer­den ihm das Ge­leit ge­ben. Se­hen Sie! Hö­ren Sie! Jetzt steigt man in die Käh­ne: in we­nig mehr als ei­ner hal­b­en Stun­de wird der Fa­ckel­zug hier oben an­ge­langt sein.«

      Der Phi­lo­soph sprang zu­rück. »Was sa­gen Sie?« ver­setz­te er, »Ihre Ka­me­ra­den aus Bonn, also Stu­den­ten, mit Stu­den­ten käme mei­ne Freund?«

      Die­se fast in­grim­mig vor­ge­sto­ße­ne Fra­ge reg­te uns auf. »Was ha­ben Sie ge­gen die Stu­den­ten?« ent­geg­ne­ten wir und be­ka­men kei­ne Ant­wort. Erst nach ei­ner Wei­le be­gann der Phi­lo­soph lang­sam, in kla­gen­dem Tone und gleich­sam den noch Ent­fern­ten an­re­dend: »Also selbst um Mit­ter­nacht, mein Freund, selbst auf dem ein­sa­men Ber­ge wer­den wir nicht al­lein sein, und du selbst bringst eine Schaar stu­den­ti­scher Stö­ren­frie­de zu mir her­auf, der du doch weißt, daß ich die­sem ge­nus om­ne gern und be­hut­sam aus dem Wege gehe. Ich ver­ste­he dich dar­in nicht, mein fer­ner Freund: es will doch Et­was sa­gen, wenn wir uns nach lan­ger Tren­nung zum Wie­der­sehn zu­sam­men­fin­den und einen sol­chen ent­le­ge­nen Win­kel und sol­che un­ge­wöhn­li­che Stun­den dazu aus­le­sen. Wozu brauch­ten wir einen Chor von Zeu­gen und von sol­chen Zeu­gen! Was uns ja für heu­te zu­sam­men­ruft, das ist doch am we­nigs­ten ein sen­ti­men­ta­li­sches weich­müthi­ges Be­dürf­niß: denn wir ha­ben Bei­de bei Zei­ten ge­lernt, al­lein und in wür­de­vol­ler Iso­la­ti­on le­ben zu kön­nen. Nicht um un­sert­wil­len, etwa um zärt­li­che Ge­füh­le zu pfle­gen oder um eine Sce­ne der Freund­schaft pa­the­tisch dar­zu­stel­len, ha­ben wir be­schlos­sen uns hier zu se­hen; son­dern hier, wo ich dich einst, in denk­wür­di­ger Stun­de, fei­er­lich ver­ein­samt, an­traf, woll­ten wir mit­ein­an­der, gleich­sam als Rit­ter ei­ner neu­en Veh­me, des erns­tes­ten Ra­thes pfle­gen. Mag uns da­bei hö­ren, wer uns ver­steht, aber warum bringst du einen Schwarm mit, der uns ge­wiß nicht ver­steht! Ich er­ken­ne dich dar­in nicht, mein fer­ner Freund!«

      Wir hiel­ten es nicht für schick­lich, den so un­ge­muth Kla­gen­den zu un­ter­bre­chen: und als er me­lan­cho­lisch ver­stumm­te, wag­ten wir doch nicht, ihm zu sa­gen, wie sehr uns die­se miß­traui­sche Ab­leh­nung der Stu­den­ten ver­drie­ßen muß­te.

      End­lich wen­de­te sich der Beglei­ter an den Phi­lo­so­phen und sag­te: »Sie er­in­nern mich, mein Leh­rer, dar­an, daß Sie ja auch in frü­he­rer Zeit, be­vor ich Sie ken­nen lern­te, an meh­re­ren Uni­ver­si­tä­ten ge­lebt ha­ben und daß Gerüch­te über Ihren Ver­kehr mit Stu­die­ren­den, über die Metho­de Ihres Un­ter­richts noch aus je­ner Pe­ri­ode im Um­lauf sind. Aus dem Tone der Re­si­gna­ti­on, mit dem Sie eben von den Stu­den­ten spra­chen, dürf­te Man­cher wohl auf ei­gent­hüm­li­che