Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in der Sphäre der Universität und vollenden damit den Kreis der Betrachtungen, zu denen wir unwillkürlich in Betreff unserer Bildungsanstalten genöthigt worden sind. Zudem sei es uns erlaubt, Sie daran zu erinnern, daß Sie, auf einer früheren Stufe Ihrer, Besprechungen, mir sogar eine derartige Verheißung gemacht haben. Von dem Gymnasium ausgehend, behaupteten Sie für dasselbe eine außerordentliche Bedeutung: an seinem Bildungsziele, je nachdem es gesteckt ist, müßten sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz hätten jene mitzuleiden. Eine solche Bedeutung, als bewegender Mittelpunkt, könne setzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten dürfe. Hier versprachen Sie mir eine spätere Ausführung: Etwas, was vielleicht auch unsere studierenden Freunde bezeugen können, die unser damaliges Gespräch möglicher Weise mit angehört haben.«
»Dies bezeugen wir«, versetzte ich. Der Philosoph wendete sich gegen uns und versetzte: »Nun, wenn ihr wirklich zugehört habt, so könnt ihr mir einmal beschreiben, was ihr, nach allem Gesagten, unter der jetzigen Gymnasialtendenz versteht. Zudem steht ihr dieser Sphäre noch nahe genug, um meine Gedanken an euren Erfahrungen und Empfindungen messen zu können.«
Mein Freund erwiderte, schnell und behend wie seine Art ist, etwa Folgendes: »Bis jetzt hatten wir immer geglaubt, daß die einzige Absicht des Gymnasiums sei, für die Universität vorzubereiten. Diese Vorbereitung aber soll uns selbständig genug für die außerordentlich freie Stellung eines Akademikers machen. Denn es scheint mir, daß in keinem Gebiete des jetzigen Lebens dem Einzelnen so viel zu entscheiden und zu verfügen überlassen sei, wie im Bereiche des studentischen Lebens. Er muß sich selbst, auf einer weiten, ihm völlig freigegebnen Fläche, auf mehrere Jahre hinaus führen können: also wird das Gymnasium versuchen müssen, ihn selbständig zu machen.«
Ich setzte die Rede meines Kameraden fort. »Es scheint mir sogar,« sagte ich, »daß alles Das, was Sie, gewiß mit Recht, an dem Gymnasium zu tadeln haben, nur nothwendige Mittel sind, um, für ein so jugendliches Alter, eine Art von Selbständigkeit und mindestens den Glauben daran zu erzeugen. Dieser Selbständigkeit soll der deutsche Unterricht dienen: das Individuum muß seiner Ansichten und Absichten zeitig froh werden, um ohne Krücken, allein gehen zu können. Deshalb wird es schon frühe zur Produktion und noch früher zu scharfer Beurteilung und Kritik angehalten. Wenn die lateinischen und griechischen Studien auch nicht im Stande sind, den Schüler für das ferne Alterthum zu entzünden, so erwacht doch wohl, bei der Methode, mit der sie betrieben werden, der wissenschaftliche Sinn, die Lust an strenger Causalität der Erkenntniß, die Begier zum Finden und Erfinden: wie Viele mögen durch eine auf dem Gymnasium gefundene, mit jugendlichem Tasten erhaschte neue Lesart zu den Reizungen der Wissenschaft dauernd verführt worden sein! Vielerlei muß der Gymnasiast lernen und in sich einsammeln: dadurch wird wahrscheinlich allgemach ein Trieb erzeugt, von dem geleitet er dann auf der Universität selbständig in ähnlicher Weise lernt und einsammelt. Kurz, wir glauben, es möge die Gymnasialtendenz sein, den Schüler so vorzubereiten und einzugewöhnen, daß er nachher so selbständig weiter lebe und lerne, wie er unter dem Zwange der Gymnasialordnung leben und lernen mußte.«
Der Philosoph lachte hierauf, doch nicht gerade gutmüthig, und versetzte: »Da habt ihr mir sogleich eine schöne Probe dieser Selbständigkeit gegeben. Und gerade diese Selbständigkeit ist es, die mich so erschreckt und mir die Nähe von Studierenden der Gegenwart immer so unerquicklich macht. Ja, meine Guten ihr seid fertig, ihr seid ausgewachsen, die Natur hat eure Form zerbrochen, und eure Lehrer dürfen sich an euch weiden. Welche Freiheit, Bestimmtheit, Unbekümmertheit des Urtheils, welche Neuheit und Frische der Einsicht! Ihr sitzt zu Gericht – und alle Kulturen aller Zeiten laufen davon. Der wissenschaftliche Sinn ist entzündet und schlägt als Flamme aus euch heraus – es hüte sich Jeder, an euch nicht zu verbrennen! Nehme ich nun gleich eure Professoren noch hinzu, so bekomme ich dieselbe Selbständigkeit noch einmal, in einer kräftigen und anmuthigen Steigerung; nie war eine Zeit so reich an den schönsten Selbständigkeiten, nie haßte man so stark jede Sklaverei, auch freilich die Sklaverei der Erziehung und der Bildung.
Erlaubt mir aber, diese eure Selbständigkeit einmal an dem Maßstabe eben dieser Bildung zu messen und eure Universität nur als Bildungsanstalt in Betracht zu ziehn. Wenn ein Ausländer unser Universitätswesen kennen lernen will, so fragt er zuerst mit Nachdruck: »Wie hängt bei euch der Student mit der Universität zusammen?« Wir antworten: »Durch das Ohr, als Hörer.« Der Ausländer erstaunt. »Nur durch das Ohr?« fragt er nochmals. »Nur durch das Ohr«, antworten wir nochmals. Der Student hört. Wenn er spricht, wenn er sieht, wenn er gesellig ist, wenn er Künste treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selbständig, das heißt unabhängig von der Bildungsanstalt. Sehr häufig schreibt der Student zugleich, während er hört. Dies sind die Momente, in denen er an der Nabelschnur der Universität hängt. Er kann sich wählen, was er hören will, er braucht nicht zu glauben, was er hört, er kann das Ohr schließen, wenn er nicht hören mag. Dies ist die »akroamatische« Lehrmethode.
Der Lehrer aber spricht zu diesen hörenden Studenten. Was er sonst denkt und thut, ist durch eine ungeheure Kluft von der Wahrnehmung des Studenten abgeschieden. Häufig liest der Professor, während er spricht. Im Allgemeinen will er möglichst viele solche Hörer haben, in der Noth begnügt er sich mit wenigen, fast nie mit einem. Ein redender Mund und sehr viele Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen – das ist der äußerliche akademische Apparat, das ist die in Thätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität. Im Übrigen ist der Inhaber dieses Mundes von den Besitzern der vielen Ohren getrennt und unabhängig: und diese doppelte Selbständigkeit preist man mit Hochgefühl als »akademische Freiheit«. Übrigens kann der Eine – um diese Freiheit noch zu erhöhen – ungefähr reden, was er will, der Andre ungefähr hören, was er will: nur daß hinter beiden Gruppen in bescheidener Entfernung der Staat mit einer gewissen gespannten Aufsehermiene steht, um von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß er Zweck, Ziel und Inbegriff der sonderbaren Sprech- und Hörprocedur sei.
Wir, denen es einmal gestattet sein muß, dieses überraschende Phänomen nur als Bildungsinstitution zu berücksichtigen, berichten also dem forschenden Ausländer, daß Das, was auf unsern