Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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Ich bin auch gern be­reit zu­zu­ge­ben, daß die auf den bes­se­ren Real­schu­len un­se­rer Tage Vor­be­rei­te­ten voll­kom­men zu den An­sprü­chen be­rech­tigt sind, die die fer­ti­gen Gym­na­sias­ten zu ma­chen pfle­gen, und die Zeit ist ge­wiß nicht mehr fern, wo man der­ar­tig Ge­schul­ten die Uni­ver­si­tä­ten und die Staats­äm­ter über­all eben­so un­um­schränkt öff­net wie bis­her nur den Zög­lin­gen des Gym­na­si­ums – wohl­ge­merkt den Zög­lin­gen des jet­zi­gen Gym­na­si­ums! Die­sen schmerz­li­chen Nach­satz kann ich aber nicht un­ter­drücken: wenn es wahr ist, daß Real­schu­le und Gym­na­si­um in ih­ren ge­gen­wär­ti­gen Zie­len im Gan­zen so ein­müthig sind und nur in so zar­ten Li­ni­en von ein­an­der ab­wei­chen, um auf eine vol­le Gleich­be­rech­ti­gung vor dem Forum des Staa­tes rech­nen zu kön­nen – so fehlt uns so­mit eine Spe­cies der Er­zie­hungs­an­stal­ten voll­stän­dig: die Spe­cies der Bil­dungs­an­stal­ten! Dies ist am we­nigs­ten ein Vor­wurf ge­gen die Real­schu­len, die viel nied­ri­ge­re, aber höchst nothwen­di­ge Ten­den­zen eben­so glück­lich als ehr­lich bis­her ver­folgt ha­ben; aber viel we­ni­ger ehr­lich geht es in der Sphä­re des Gym­na­si­ums zu, auch viel we­ni­ger glück­lich: denn hier lebt et­was von ei­nem in­stink­ti­ven Ge­fühl der Be­schä­mung, von ei­ner un­be­wuß­ten Er­kennt­niß, daß das gan­ze In­sti­tut schmäh­lich de­gra­dirt sei, und daß den klang­vol­len Bil­dungs­wor­ten klu­ger apo­lo­ge­ti­scher Leh­rer die bar­ba­risch-öde und ste­ri­le Wirk­lich­keit wi­der­spricht. Also es giebt kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten! Und dort, wo man de­ren Mie­nen we­nigs­tens noch er­heu­chelt, ist man hoff­nungs­lo­ser, ab­ge­ma­ger­ter und un­zu­fried­ner als an den Her­den des so­ge­nann­ten »Rea­lis­mus«! Üb­ri­gens, merkt euch, mei­ne Freun­de, wie roh und un­un­ter­rich­tet man in den Leh­rer­krei­sen sein muß, wenn man den stren­gen phi­lo­so­phi­schen Ter­mi­nus »real« und »Rea­lis­mus« in dem Maa­ße miß­ver­stehn konn­te, um da­hin­ter den Ge­gen­satz von Stoff und Geist zu wit­tern und um den »Rea­lis­mus« in­ter­pre­ti­ren zu kön­nen als »die Rich­tung auf das Er­ken­nen, Ge­stal­ten, Be­herr­schen des Wirk­li­chen«.

      Ich für mei­nen Theil ken­ne nur einen wah­ren Ge­gen­satz, An­stal­ten der Bil­dung und An­stal­ten der Le­bens­noth: zu der zwei­ten Gat­tung ge­hö­ren alle vor­han­de­nen, von der ers­ten aber rede ich.«

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      Es mö­gen etwa zwei Stun­den ver­gan­gen sein, wäh­rend die bei­den phi­lo­so­phi­schen Ge­nos­sen sich über so be­frem­den­de Din­ge un­ter­re­de­ten. In­zwi­schen war es Nacht ge­wor­den: und wenn schon in der Däm­me­rung die Stim­me des Phi­lo­so­phen wie eine Na­tur­mu­sik in dem wal­di­gen Ge­he­ge er­k­lun­gen war, so brach sich jetzt, in der völ­li­gen Schwär­ze der Nacht, wenn er er­regt oder gar lei­den­schaft­lich sprach, der Klang in man­nig­fal­ti­gem Don­nern, Kra­chen und Zi­schen an den in’s Thal hin­ab sich ver­lie­ren­den Baum­stäm­men und Fels­blö­cken. Plötz­lich wur­de er stumm: er hat­te so­eben, mit fast mit­lei­di­ger Wen­dung wie­der­holt: »wir ha­ben kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten, wir ha­ben kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten!« – da fiel Et­was, viel­leicht ein Tan­nen­zap­fen, un­mit­tel­bar vor ihm nie­der, bel­lend stürz­te der Hund des Phi­lo­so­phen auf die­ses Et­was zu: – so un­ter­bro­chen, hob der Phi­lo­soph den Kopf und fühl­te mit ei­nem Male die Nacht, die Küh­le, die Ein­sam­keit. »Was ma­chen wir doch!« sag­te er zu sei­nem Beglei­ter: »es ist ja fins­ter ge­wor­den. Du weißt, wen wir hier er­war­te­ten: aber er kommt nicht mehr. Wir wa­ren um­sonst so lan­ge hier: wir wol­len ge­hen.«

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      Nun muß ich Sie, mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer, mit den Emp­fin­dun­gen be­kannt ma­chen, mit de­nen ich und mein Freund, von un­se­rem Ver­ste­cke aus, dem deut­lich wahr­nehm­ba­ren und von uns gie­rig er­lausch­ten Ge­sprä­che ge­folgt wa­ren. Ich habe Ih­nen ja er­zählt, daß wir, an je­ner Stel­le und in je­ner Abend­stun­de, ein Erin­ne­rungs­fest zu fei­ern uns be­wußt wa­ren: die­se Erin­ne­rung be­zog sich auf nichts An­de­res als auf Bil­dungs- und Er­zie­hungs­din­ge, von de­nen wir, nach un­se­rem ju­gend­li­chen Glau­ben, eine rei­che und glück­li­che Ern­te aus un­se­rem bis­he­ri­gen Le­ben heim­ge­bracht hat­ten. So wa­ren wir denn be­son­ders ge­neigt, mit Dank­bar­keit der In­sti­tu­ti­on zu ge­den­ken, die wir einst, an die­ser Stel­le aus­ge­dacht hat­ten, um, wie ich schon frü­her mit­t­heil­te, in ei­nem klei­nen Kreis von Ge­nos­sen un­se­re le­ben­di­gen Bil­dungs­re­gun­gen ge­gen­sei­tig an­zu­spor­nen und zu über­wa­chen. Plötz­lich aber fiel auf jene gan­ze Ver­gan­gen­heit ein gänz­lich un­er­war­te­tes Licht, als wir schwei­gend und lau­schend uns den star­ken Re­den des Phi­lo­so­phen über­lie­ßen. Wir ka­men uns vor wie Sol­che, die mit ei­nem Male in un­be­wach­tem Wan­dern ih­ren Fuß an ei­nem Ab­grund fin­den: wir ahn­ten den größ­ten Ge­fah­ren nicht so­wohl ent­gan­gen als ent­ge­gen­ge­lau­fen zu sein. Hier, an der für uns so denk­wür­di­gen Stel­le, hör­ten wir den Mahn­ruf: »Zu­rück! Kei­nen Schritt wei­ter! Wißt ihr, wo­hin euer Fuß euch trägt, wo­hin die­ser glei­ßen­de Weg euch lockt?«

      Es schi­en, daß wir es jetzt wuß­ten, und das Ge­fühl über­strö­men­den Dan­kes führ­te uns so un­wi­der­steh­lich dem erns­ten War­ner und treu­en Eckart zu, daß wir Bei­de zu­gleich auf­spran­gen, um den Phi­lo­so­phen zu um­ar­men. Die­ser war eben im Be­griff fort­zu­gehn und hat­te sich be­reits seit­wärts ge­wen­det; als wir so über­ra­schend mit lau­ten Schrit­ten auf ihn zu spran­gen, und der Hund mit schar­fem Ge­bell sich uns ent­ge­gen­warf, moch­te er, sammt sei­nem Beglei­ter, eher an einen räu­be­ri­schen Über­fall als an eine be­geis­ter­te Umar­mung den­ken. Of­fen­bar hat­te er uns ver­ges­sen. Kurz, er lief da­von. Un­se­re Umar­mung miß­lang völ­lig, als wir ihn ein­hol­ten. Denn mein Freund schrie in dem Au­gen­bli­cke, weil der Hund ihn ge­bis­sen hat­te, und der Beglei­ter sprang mit sol­cher Wucht auf mich los, daß wir Bei­de um­fie­len. Es ent­stand, zwi­schen Hund und Mensch, eine un­heim­li­che Reg­sam­keit auf dem Erd­bo­den, die ei­ni­ge Au­gen­bli­cke an­dau­er­te – bis es mei­nem Freun­de ge­lang, mit star­ker Stim­me und die Wor­te des Phi­lo­so­phen par­odi­rend, zu ru­fen: »Im Na­men al­ler Cul­tur und Pseu­do­cul­tur! Was will der dum­me Hund von uns! Ver­ma­le­dei­ter Hund, weg von hier, du Un­ein­ge­weih­ter, Nie-ein­zu­wei­hen­der, weg von uns und un­se­ren Ein­ge­wei­den, gehe schwei­gend zu­rück, schwei­gend und be­schämt!« Nach die­ser An­re­de klär­te sich die Sce­ne et­was: so weit sie sich in der völ­li­gen Dun­kel­heit des Wal­des klä­ren konn­te. »Sie sind es!« rief der Phi­lo­soph. »Un­se­re Pis­to­len­schüt­zen! Wie ha­ben Sie uns er­schreckt! Was treibt Sie, so auf mich nächt­li­cher Wei­le los­zu­stür­zen?«

      »Freu­de, Dank, Ver­eh­rung treibt uns«, sag­ten wir und schüt­tel­ten die Hän­de des Grei­ses, wäh­rend der Hund ein ah­nungs­rei­ches Ge­bell aus­stieß. »Wir woll­ten Sie nicht fort­las­sen, ohne Ih­nen dies zu sa­gen. Und um Ih­nen Al­les er­klä­ren zu kön­nen, dür­fen Sie auch noch nicht fort­ge­hen: wir wol­len Sie auch um wie Vie­les! noch fra­gen, was wir ge­ra­de jetzt auf dem Her­zen ha­ben. Blei­ben Sie doch: je­der Schritt des Wegs ist uns ver­traut, wir ge­lei­ten Sie nach­her hin­ab. Vi­el­leicht kommt auch der von Ih­nen er­war­te­te Gast noch. Se­hen Sie ein­mal dort hin­un­ter auf den Rhein: was schwimmt da so hell, wie un­ter dem Schei­ne vie­ler Fa­ckeln her­um? Da su­che ich Ihren Freund mit­ten dar­in, ja ich ahne be­reits, daß er mit al­len die­sen Fa­ckeln zu Ih­nen her­auf­kom­men