Ich bin auch gern bereit zuzugeben, daß die auf den besseren Realschulen unserer Tage Vorbereiteten vollkommen zu den Ansprüchen berechtigt sind, die die fertigen Gymnasiasten zu machen pflegen, und die Zeit ist gewiß nicht mehr fern, wo man derartig Geschulten die Universitäten und die Staatsämter überall ebenso unumschränkt öffnet wie bisher nur den Zöglingen des Gymnasiums – wohlgemerkt den Zöglingen des jetzigen Gymnasiums! Diesen schmerzlichen Nachsatz kann ich aber nicht unterdrücken: wenn es wahr ist, daß Realschule und Gymnasium in ihren gegenwärtigen Zielen im Ganzen so einmüthig sind und nur in so zarten Linien von einander abweichen, um auf eine volle Gleichberechtigung vor dem Forum des Staates rechnen zu können – so fehlt uns somit eine Species der Erziehungsanstalten vollständig: die Species der Bildungsanstalten! Dies ist am wenigsten ein Vorwurf gegen die Realschulen, die viel niedrigere, aber höchst nothwendige Tendenzen ebenso glücklich als ehrlich bisher verfolgt haben; aber viel weniger ehrlich geht es in der Sphäre des Gymnasiums zu, auch viel weniger glücklich: denn hier lebt etwas von einem instinktiven Gefühl der Beschämung, von einer unbewußten Erkenntniß, daß das ganze Institut schmählich degradirt sei, und daß den klangvollen Bildungsworten kluger apologetischer Lehrer die barbarisch-öde und sterile Wirklichkeit widerspricht. Also es giebt keine Bildungsanstalten! Und dort, wo man deren Mienen wenigstens noch erheuchelt, ist man hoffnungsloser, abgemagerter und unzufriedner als an den Herden des sogenannten »Realismus«! Übrigens, merkt euch, meine Freunde, wie roh und ununterrichtet man in den Lehrerkreisen sein muß, wenn man den strengen philosophischen Terminus »real« und »Realismus« in dem Maaße mißverstehn konnte, um dahinter den Gegensatz von Stoff und Geist zu wittern und um den »Realismus« interpretiren zu können als »die Richtung auf das Erkennen, Gestalten, Beherrschen des Wirklichen«.
Ich für meinen Theil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.«
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Es mögen etwa zwei Stunden vergangen sein, während die beiden philosophischen Genossen sich über so befremdende Dinge unterredeten. Inzwischen war es Nacht geworden: und wenn schon in der Dämmerung die Stimme des Philosophen wie eine Naturmusik in dem waldigen Gehege erklungen war, so brach sich jetzt, in der völligen Schwärze der Nacht, wenn er erregt oder gar leidenschaftlich sprach, der Klang in mannigfaltigem Donnern, Krachen und Zischen an den in’s Thal hinab sich verlierenden Baumstämmen und Felsblöcken. Plötzlich wurde er stumm: er hatte soeben, mit fast mitleidiger Wendung wiederholt: »wir haben keine Bildungsanstalten, wir haben keine Bildungsanstalten!« – da fiel Etwas, vielleicht ein Tannenzapfen, unmittelbar vor ihm nieder, bellend stürzte der Hund des Philosophen auf dieses Etwas zu: – so unterbrochen, hob der Philosoph den Kopf und fühlte mit einem Male die Nacht, die Kühle, die Einsamkeit. »Was machen wir doch!« sagte er zu seinem Begleiter: »es ist ja finster geworden. Du weißt, wen wir hier erwarteten: aber er kommt nicht mehr. Wir waren umsonst so lange hier: wir wollen gehen.«
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Nun muß ich Sie, meine verehrten Zuhörer, mit den Empfindungen bekannt machen, mit denen ich und mein Freund, von unserem Verstecke aus, dem deutlich wahrnehmbaren und von uns gierig erlauschten Gespräche gefolgt waren. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß wir, an jener Stelle und in jener Abendstunde, ein Erinnerungsfest zu feiern uns bewußt waren: diese Erinnerung bezog sich auf nichts Anderes als auf Bildungs- und Erziehungsdinge, von denen wir, nach unserem jugendlichen Glauben, eine reiche und glückliche Ernte aus unserem bisherigen Leben heimgebracht hatten. So waren wir denn besonders geneigt, mit Dankbarkeit der Institution zu gedenken, die wir einst, an dieser Stelle ausgedacht hatten, um, wie ich schon früher mittheilte, in einem kleinen Kreis von Genossen unsere lebendigen Bildungsregungen gegenseitig anzuspornen und zu überwachen. Plötzlich aber fiel auf jene ganze Vergangenheit ein gänzlich unerwartetes Licht, als wir schweigend und lauschend uns den starken Reden des Philosophen überließen. Wir kamen uns vor wie Solche, die mit einem Male in unbewachtem Wandern ihren Fuß an einem Abgrund finden: wir ahnten den größten Gefahren nicht sowohl entgangen als entgegengelaufen zu sein. Hier, an der für uns so denkwürdigen Stelle, hörten wir den Mahnruf: »Zurück! Keinen Schritt weiter! Wißt ihr, wohin euer Fuß euch trägt, wohin dieser gleißende Weg euch lockt?«
Es schien, daß wir es jetzt wußten, und das Gefühl überströmenden Dankes führte uns so unwiderstehlich dem ernsten Warner und treuen Eckart zu, daß wir Beide zugleich aufsprangen, um den Philosophen zu umarmen. Dieser war eben im Begriff fortzugehn und hatte sich bereits seitwärts gewendet; als wir so überraschend mit lauten Schritten auf ihn zu sprangen, und der Hund mit scharfem Gebell sich uns entgegenwarf, mochte er, sammt seinem Begleiter, eher an einen räuberischen Überfall als an eine begeisterte Umarmung denken. Offenbar hatte er uns vergessen. Kurz, er lief davon. Unsere Umarmung mißlang völlig, als wir ihn einholten. Denn mein Freund schrie in dem Augenblicke, weil der Hund ihn gebissen hatte, und der Begleiter sprang mit solcher Wucht auf mich los, daß wir Beide umfielen. Es entstand, zwischen Hund und Mensch, eine unheimliche Regsamkeit auf dem Erdboden, die einige Augenblicke andauerte – bis es meinem Freunde gelang, mit starker Stimme und die Worte des Philosophen parodirend, zu rufen: »Im Namen aller Cultur und Pseudocultur! Was will der dumme Hund von uns! Vermaledeiter Hund, weg von hier, du Uneingeweihter, Nie-einzuweihender, weg von uns und unseren Eingeweiden, gehe schweigend zurück, schweigend und beschämt!« Nach dieser Anrede klärte sich die Scene etwas: so weit sie sich in der völligen Dunkelheit des Waldes klären konnte. »Sie sind es!« rief der Philosoph. »Unsere Pistolenschützen! Wie haben Sie uns erschreckt! Was treibt Sie, so auf mich nächtlicher Weile loszustürzen?«
»Freude, Dank, Verehrung treibt uns«, sagten wir und schüttelten die Hände des Greises, während der Hund ein ahnungsreiches Gebell ausstieß. »Wir wollten Sie nicht fortlassen, ohne Ihnen dies zu sagen. Und um Ihnen Alles erklären zu können, dürfen Sie auch noch nicht fortgehen: wir wollen Sie auch um wie Vieles! noch fragen, was wir gerade jetzt auf dem Herzen haben. Bleiben Sie doch: jeder Schritt des Wegs ist uns vertraut, wir geleiten Sie nachher hinab. Vielleicht kommt auch der von Ihnen erwartete Gast noch. Sehen Sie einmal dort hinunter auf den Rhein: was schwimmt da so hell, wie unter dem Scheine vieler Fackeln herum? Da suche ich Ihren Freund mitten darin, ja ich ahne bereits, daß er mit allen diesen Fackeln zu Ihnen heraufkommen