an diesen Heiligthümern herumtastet. Gerade in dem Stande aber, aus dem der größte Theil der Gymnasiallehrer entnommen wird, in dem Stande der Philologen, ist diese rohe und respektlose Empfindung das ganz Allgemeine: weshalb nun auch wiederum das Fortpflanzen und Weitertragen einer solchen Gesinnung an den Gymnasien nicht überraschen wird.
Man sehe sich nur eine junge Generation von Philologen an; wie selten bemerkt man bei ihnen jenes beschämte Gefühl, daß wir, angesichts einer solchen Welt, wie die hellenische ist, gar kein Recht zur Existenz haben, wie kühl und dreist dagegen baut jene junge Brut ihre elenden Nester mitten in den großartigsten Tempeln! Den Allermeisten von Denen, welche von ihrer Universitätszeit an so selbstgefällig und ohne Scheu in den erstaunlichen Trümmern jener Welt herumwandern, sollte eigentlich aus jedem Winkel eine mächtige Stimme entgegentönen: »Weg von hier, ihr Uneingeweihten, ihr niemals Einzuweihenden, flüchtet schweigend aus diesem Heiligthum, schweigend und beschämt!« Ach, diese Stimme tönt vergebens: denn man muß schon etwas von griechischer Art sein, um auch nur eine griechische Verwünschung und Bannformel zu verstehen! Jene aber sind so barbarisch, daß sie es sich nach ihrer Gewöhnung unter diesen Ruinen behaglich einrichten: alle ihre modernen Bequemlichkeiten und Liebhabereien bringen sie mit und verstecken sie auch wohl hinter antiken Säulen und Grabmonumenten: wobei es dann großen Jubel giebt, wenn man Das in antiker Umgebung wiederfindet, was man erst selbst vorher listig hineinpraktizirt hat. Der Eine macht Verse und versteht im Lexikon des Hesychius nachzuschlagen: sofort ist er überzeugt, daß er zum Nachdichter des Äschylus berufen sei, und findet auch Gläubige, welche behaupten, daß er dem Äschylus »congenial« sei, er, der dichtende Schacher! Wieder ein Andrer spürt mit dem argwöhnischen Auge eines Polizeimanns nach allen Widersprüchen, nach den Schatten von Widersprüchen, deren sich Homer schuldig gemacht hat: er vergeudet sein Leben im Auseinanderreißen und Aneinandernähen homerischer Fetzen, die er selbst erst dem herrlichen Gewande abgestohlen hat. Einem Dritten wird es bei allen den mysterienhaften und orgiastischen Seiten des Alterthums unbehaglich: er entschließt sich ein für allemal, nur den aufgeklärten Apollo gelten zu lassen und im Athener einen heiteren, verständigen, doch etwas unmoralischen Apolliniker zu sehen. Wie athmet er aus, wenn er wieder einen dunklen Winkel des Alterthums auf die Höhe seiner eignen Aufklärung gebracht hat, wenn er zum Beispiel im alten Pythagoras einen wackeren Mitbruder in aufklärerischen politicis entdeckt hat. Ein Andrer quält sich mit der Überlegung, warum Ödipus vom Schicksale zu so abscheulichen Dingen verurtheilt worden sei, seinen Vater tödten, seine Mutter heirathen zu müssen. Wo bleibt die Schuld! Wo die poetische Gerechtigkeit! Plötzlich weiß er es: Ödipus sei doch eigentlich ein leidenschaftlicher Gesell gewesen, ohne alle christliche Milde: er gerathe ja einmal sogar in eine ganz unziemliche Hitze – als ihn Tiresias das Scheusal und den Fluch des ganzen Landes nenne. Seid sanftmüthig! wollte vielleicht Sophokles lehren: sonst müßt ihr eure Mutter heirathen und euren Vater tödten! Wieder Andre zählen ihr Leben lang an den Versen griechischer und römischer Dichter herum und erfreuen sich an der Proportion 7:13 = 14:26. Endlich verheißt wohl Einer gar die Lösung einer solchen Frage, wie die homerische vom Standpunkt der Präpositionen und glaubt mit ἀνά und ϰατά die Wahrheit aus dem Brunnen zu ziehn. Alle aber, bei den verschiedensten Tendenzen graben und wühlen in dem griechischen Boden mit einer Rastlosigkeit, einem täppischen Ungeschick, daß ein ernster Freund des Alterthums geradezu ängstlich werden muß: und so möchte ich jeden begabten oder unbegabten Menschen, der eine gewisse berufsmäßige Neigung zu dem Alterthume hin ahnen läßt, an die Hand nehmen und vor ihm in folgender Weise peroriren: »Weißt du auch, was für Gefahren dir drohen, junger, mit einem mäßigen Schulwissen auf die Reise geschickter Mensch? Hast du gehört, daß es nach Aristoteles ein untragischer Tod ist, von einer Bildsäule erschlagen zu werden? Und gerade dieser Tod droht dir. Du wunderst dich? So wisse denn, daß die Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde versunkne umgefallne Statue des griechischen Alterthums wieder aufzurichten, bis jetzt immer mit unzureichenden Kräften: denn das ist ein Koloß, auf dem die Einzelnen wie Zwerge herumklettern. Ungeheure vereinte Mühe und alle Hebelkräfte moderner Cultur sind angewendet: immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie zurück und zertrümmert im Fall die Menschen unter ihr. Das möchte noch angehn: denn jedes Wesen muß an Etwas zu Grunde gehn: wer aber steht dafür, daß bei diesen Versuchen die Statue selbst nicht in Stücke bricht! Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde – das wäre etwa zu verschmerzen – aber das Alterthum zerbricht durch die Philologen selbst in Stücke! Dies überlege dir, junger leichtsinniger Mensch, gehe zurück, falls du kein Bilderstürmer bist!«
»In der That«, sagte der Philosoph lachend, »giebt es jetzt zahlreiche Philologen, welche zurückgegangen sind, wie du es verlangst: und ich nehme einen großen Contrast gegen die Erfahrungen meiner Jugend wahr. Eine große Menge von ihnen kommt, bewußt oder unbewußt, zu der Überzeugung, daß die direkte Berührung mit dem classischen Alterthume für sie nutzlos und hoffnungslos sei: weshalb auch jetzt dieses Studium bei der Mehrzahl der Philologen selbst als steril, als ausgelebt, als epigonenhaft gilt. Mit um so größerer Lust hat sich diese Schaar auf die Sprachwissenschaft gestürzt: hier, in einem unendlichen Bereich frisch aufgeworfnen Ackerlandes, wo gegenwärtig noch die mäßigste Begabung mit Nutzen verbraucht werden kann und eine gewisse Nüchternheit sogar bereits als positives Talent betrachtet wird, bei der Neuheit und Unsicherheit der Methoden und der fortwährenden Gefahr phantastischer Verirrungen – hier, wo eine Arbeit in Reih und Glied gerade das Wünschenswerteste ist – hier überrascht den Herankommenden nicht jene abweisende majestätische Stimme, die aus der Trümmerwelt des Alterthums ihm entgegenklingt: hier nimmt man Jeden noch mit offnen Armen auf, und auch Der, welcher es vor Sophokles und Aristophanes niemals zu einem ungewöhnlichen Eindruck, zu einem achtbaren Gedanken brachte, wird etwa mit Erfolg an einen etymologischen Webstuhl gestellt oder zum Sammeln entlegener Dialektreste aufgefordert – und unter Verknüpfen und Trennen, Sammeln und Zerstreuen, Hin- und Herlaufen und Büchernachschlagen vergeht ihm der Tag. Nun aber soll ein so nützlich verwendeter Sprachforscher noch vor Allem Lehrer sein! Und nun soll er gerade, seinen Verpflichtungen gemäß, über alte Autoren, zum Heile der Gymnasialjugend, etwas zu lehren haben, über die er es doch selbst nie zu Eindrücken, noch weniger zu Einsichten gebracht hat! Welche