vor Allem seinen Begleiter auf die seltsame Entartung aufmerksam gemacht, die in dem Kerne einer Cultur eingetreten sein muß, wenn der Staat glauben darf, sie zu beherrschen, wenn er durch sie Staatsziele erreicht, wenn er, mit ihr verbündet, gegen feindselige andere Mächte ebensowohl als gegen den Geist ankämpft, den der Philosoph den »wahrhaft deutschen« zu nennen wagte. Dieser Geist, durch das edelste Bedürfniß an die Griechen gekettet, in schwerer Vergangenheit als ausdauernd und muthig bewährt, rein und erhaben in seinen Zielen, durch seine Kunst zur höchsten Ausgabe befähigt, den modernen Menschen vom Fluche des Modernen zu erlösen – dieser Geist ist verurtheilt, abseits, seinem Erbe entfremdet zu leben: wenn aber seine langsamen Klagelaute durch die Wüste der Gegenwart schallen, dann erschrickt die überhäufte und buntbehängte Bildungskarawane dieser Gegenwart. Nicht nur Erstaunen, sondern Schrecken sollen wir bringen, das war die Meinung des Philosophen, nicht scheu davonzufliehn, sondern anzugreifen war sein Rath: besonders aber redete er seinem Begleiter zu, nicht zu ängstlich und abwägend an das Individuum zu denken, aus dem, durch einen höheren Instinkt, jene Abneigung gegen die jetzige Barbarei hervorströmt. »Mag es zu Grunde gehn: der pythische Gott war nicht verlegen darum, einen neuen Dreifuß, eine zweite Pythia zu finden, so lange überhaupt der mystische Dampf noch aus der Tiefe quoll«.
Von Neuem erhob der Philosoph seine Stimme: »Merkt es wohl, meine Freunde,« sagte er, »zweierlei dürft ihr nicht verwechseln. Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf um’s Dasein zu kämpfen: aber Alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und thut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegentheil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Noth, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit lagert. Es fragt sich nun, wie sehr ein Mensch sein Subjekt neben anderen Subjekten schätzt, wie viel er von seiner Kraft für jenen individuellen Lebenskampf verbraucht. Mancher wird, bei einer stoisch-engen Umschränkung seiner Bedürfnisse, sehr bald und leicht in jene Sphäre sich erheben, in der er sein Subjekt vergessen und gleichsam abschütteln darf, um nun in einem Sonnensystem zeitloser und unpersönlicher Angelegenheiten sich ewiger Jugend zu erfreuen. Ein Anderer dehnt die Wirkung und die Bedürfnisse seines Subjekts so in die Breite und baut in einem so erstaunlichen Maaße an dem Mausoleum dieses seines Subjekts, als ob er so im Stande sei, im Ringkampfe den ungeheuren Gegner, die Zeit, zu überwinden. Auch in einem solchen Triebe zeigt sich ein Verlangen nach Unsterblichkeit: Reichthum und Macht. Klugheit, Geistesgegenwart, Beredtsamkeit, ein blühendes Ansehn, ein gewichtiger Name – Alles sind hier nur Mittel geworden, mit denen der unersättliche persönliche Lebenswille nach neuem Leben verlangt, mit denen er nach einer, zuletzt illusorischen Ewigkeit lechzt.
Aber selbst in dieser höchsten Form des Subjekts, auch in dem gesteigertsten Bedürfniß eines solchen erweiterten und gleichsam collektiven Individuums giebt es noch keine Berührung mit der wahren Bildung: und wenn von dieser Seite aus zum Beispiel nach Kunst verlangt wird, so kommen gerade nur die zerstreuenden oder stimulirenden ihrer Wirkungen in Betracht, also diejenigen, welche die reine und erhabene Kunst am wenigsten und die entwürdigte und verunreinigte am Besten zu erregen versteht. Denn in seinem gesammten Thun und Treiben, so großartig es sich vielleicht für den Betrachter ausnehmen mag, ist er doch niemals seines begehrenden und rastlosen Subjektes ledig geworden: jener erleuchtete Ätherraum der subjektfreien Contemplation flieht vor ihm zurück – und darum wird er, er mag lernen, reisen, sammeln, von der wahren Bildung in ewiger Entfernung und verbannt leben müssen. Denn die wahre Bildung verschmäht es, sich mit dem bedürftigen und begehrenden Individuum zu verunreinigen: sie weiß Demjenigen, der sich ihrer als eines Mittels zu egoistischen Absichten versichern möchte, weislich zu entschlüpfen: und wenn sie gar Einer festzuhalten wähnt, um nun etwa einen Erwerb aus ihr zu machen und seine Lebensnoth durch ihre Ausnutzung zu stillen, dann läuft sie plötzlich, mit unhörbaren Schlitten und mit der Miene der Verhöhnung fort.
Also, meine Freunde, verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, ätherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch die »Bildung« nennt, aber nur die intellektuelle Wienerin und Beratherin der Lebensnoth, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brodgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze. Freilich ist eine solche Anweisung für die allermeisten Menschen von erster und nächster Wichtigkeit: und je schwieriger der Kampf ist, um so mehr muß der junge Mensch lernen, um so angespannter muß er seine Kräfte regen.
Nur aber glaube Niemand, daß die Anstalten, die ihn zu diesem Kampfe anspornen und befähigen, irgendwie in ernstem Sinne als Bildungsanstalten in Betracht kommen könnten. Es sind Institutionen zur Überwindung der Lebensnoth, mögen sie nun versprechen Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirthe oder Ärzte oder Techniker zu bilden. Für solche Institutionen gelten aber jedenfalls andere Gesetze und Maßstäbe als für die Errichtung einer Bildungsanstalt: und was hier erlaubt, ja so geboten wie möglich ist, dürfte dort ein freventliches Unrecht sein.
Ich will euch, meine Freunde, ein Beispiel geben. Wollt ihr einen jungen Menschen auf den rechten Bildungspfad geleiten, so hütet euch wohl, das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältniß desselben zur Natur zu stören: zu ihm müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfnen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen: so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichniß der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Nothwendigkeit sich selbst beruhigen. Aber wie vielen jungen Menschen darf es gestattet sein, so nahe und fast persönlich zur Natur gestellt heranzuwachsen! Die Anderen müssen frühzeitig eine andre Wahrheit lernen: wie man die Natur sich unterjocht. Hier ist es mit jener naiven Metaphysik zu Ende: und die Physiologie der Pflanzen und Thiere, die Geologie, die unorganische Chemie zwingt ihre Jünger zu einer ganz veränderten Betrachtung der Natur. Was durch diese neue angezwungene Betrachtungsart verloren gegangen ist, ist nicht etwa eine poetische Phantasmagorie,