Bildung kommen.«
Im Sinne einer solchen Anrede hätte der deutsche Lehrer am Gymnasium die Verpflichtung, auf tausende von Einzelheiten seine Schüler aufmerksam zu machen und ihnen mit der ganzen Sicherheit eines guten Geschmacks den Gebrauch von solchen Worten geradezu zu verbieten, wie zum Beispiel von »beanspruchen«, »vereinnahmen«, »einer Sache Rechnung tragen«, »die Initiative ergreifen«, »selbstverständlich« – und so weiter cum taedio in infinitum. Derselbe Lehrer würde ferner an unseren klassischen Autoren von Zeile zu Zeile zeigen müssen, wie sorgsam und streng jede Wendung zu nehmen ist, wenn man das rechte Kunstgefühl im Herzen und die volle Verständlichkeit alles Dessen, was man schreibt, vor Augen hat. Er wird immer und immer wieder seine Schüler nöthigen, denselben Gedanken noch einmal und noch besser auszudrücken, und wird keine Grenze seiner Thätigkeit finden, bevor nicht die geringer Begabten in einen heiligen Schreck vor der Sprache, die Begabteren in eine edle Begeisterung für dieselbe gerathen sind.
Nun, hier ist eine Aufgabe für die sogenannte formelle Bildung und eine der allerwerthvollsten: und was finden wir nun am Gymnasium, an der Stätte der sogenannten formellen Bildung? – Wer Das, was er hier gefunden hat, unter die richtigen Rubriken zu bringen versteht, wird wissen, was er von dem jetzigen Gymnasium als einer angeblichen Bildungsanstalt zu halten hat: er wird nämlich finden, daß das Gymnasium nach seiner ursprünglichen Formation nicht für die Bildung, sondern nur für die Gelehrsamkeit erzieht, und ferner, daß es neuerdings die Wendung nimmt, als ob es nicht einmal mehr für die Gelehrsamkeit, sondern für die Journalistik erziehn wolle. Dies ist an der Art, wie der deutsche Unterricht ertheilt wird, wie an einem recht zuverlässigen Beispiele zu zeigen.
An Stelle jener rein praktischen Instruktion, durch die der Lehrer seine Schüler an eine strenge sprachliche Selbsterziehung gewöhnen sollte, finden wir überall die Ansätze zu einer gelehrt-historischen Behandlung der Muttersprache: das heißt, man verfährt mit ihr, als ob sie eine todte Sprache sei, und als ob es für die Gegenwart und Zukunft dieser Sprache keine Verpflichtungen gäbe. Die historische Manier ist unserer Zeit bis zu dem Grade geläufig geworden, daß auch der lebendige Leib der Sprache ihren anatomischen Studien preisgegeben wird: hier aber beginnt gerade die Bildung, daß man versteht das Lebendige als lebendig zu behandeln, hier beginnt gerade die Aufgabe des Bildungslehrers, das überall her sich aufdrängende »historische Interesse« dort zu unterdrücken, wo vor allen Dingen richtig gehandelt, nicht erkannt werden muß. Unsere Muttersprache aber ist ein Gebiet, auf dem der Schüler richtig handeln lernen muß: und ganz allein nach dieser praktischen Seite hin ist der deutsche Unterricht auf unsern Bildungsanstalten nothwendig. Freilich scheint die historische Manier für den Lehrer bedeutend leichter und bequemer zu sein, ebenfalls scheint sie einer weit geringeren Anlage, überhaupt einem niedrigeren Fluge seines gesammten Wollens und Strebens zu entsprechen. Aber diese selbe Wahrnehmung werden wir auf allen Feldern der pädagogischen Wirklichkeit zu machen haben: das Leichtere und Bequemere hüllt sich in den Mantel prunkhafter Ansprüche und stolzer Titel: das eigentlich Praktische, das zur Bildung gehörige Handeln, als das im Grunde Schwerere, erntet die Blicke der Mißgunst und Geringschätzung: weshalb der ehrliche Mensch auch dieses Quidproquo sich und Anderen zur Klarheit bringen muß.
Was pflegt nun der deutsche Lehrer, außer diesen gelehrtenhaften Anregungen zu einem Studium der Sprache, sonst noch zu geben? Wie verbindet er den Geist seiner Bildungsanstalt mit dem Geist der wenigen wahrhaft Gebildeten, die das deutsche Volk hat, mit dem Geiste seiner classischen Dichter und Künstler? Dies ist ein dunkles und bedenkliches Bereich, in das man nicht ohne Schrecken hineinleuchten kann: aber auch hier wollen wir uns nichts verhehlen, weil irgendwann einmal hier Alles neu werden muß. In dem Gymnasium wird die widerwärtige Signatur unserer ästhetischen Journalistik auf die noch ungeformten Geister der Jünglinge geprägt: hier werden von dem Lehrer selbst die Keime zu dem rohen Mißverstehen-wollen unserer Classiker ausgesäet, das sich nachher als ästhetische Kritik geberdet und nichts als vorlaute Barbarei ist. Hier lernen die Schüler von unserm einzigen Schiller mit jener knabenhaften Überlegenheit zu reden, hier gewöhnt man sie, über die edelsten und deutschesten seiner Entwürfe, über den Marquis Posa, über Max und Thella zu lächeln – ein Lächeln, über das der deutsche Genius ergrimmt, über das eine bessere Nachwelt erröthen wird.
Das letzte Bereich, auf dem der deutsche Lehrer am Gymnasium thätig zu sein pflegt, und das nicht selten als die Spitze seiner Thätigkeit, hier und da sogar als die Spitze der Gymnasialbildung betrachtet wird, ist die sogenannte deutsche Arbeit. Daran daß auf diesem Bereiche sich fast immer die begabtesten Schüler mit besonderer Lust tummeln, sollte man erkennen, wie gefährlich-anreizend gerade die hier gestellte Aufgabe sein mag. Die deutsche Arbeit ist ein Appell an das Individuum: und je stärker bereits sich ein Schüler seiner unterscheidenden Eigenschaften bewußt ist, um so persönlicher wird er seine deutsche Arbeit gestalten. Dieses »persönliche Gestalten« wird noch dazu in den meisten Gymnasien schon durch die Wahl der Themata gefordert: wofür mir immer der stärkste Beweis ist, daß man schon in den niedrigeren Klassen das an und für sich unpädagogische Thema stellt, durch welches der Schüler zu einer Beschreibung seines eignen Lebens, seiner eignen Entwicklung veranlaßt wird. Nun mag man nur einmal die Verzeichnisse solcher Themata an einer größeren Anzahl von Gymnasien durchlesen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß wahrscheinlich die allermeisten Schüler für ihr Leben an dieser zu früh geforderten Persönlichkeitsarbeit, an dieser unreifen Gedankenerzeugung, ohne ihr Verschulden, zu leiden haben: und wie oft erscheint das ganze spätere litterarische Wirken eines Menschen wie die traurige Folge jener pädagogischen Ursünde wider den Geist!
Man muß nur denken, was in einem solchen Alter, bei der Produktion einer solchen Arbeit, vor sich geht. Es ist die erste eigne Produktion; die noch unentwickelten Kräfte schießen zum ersten Male zu einer Krystallisation zusammen; das taumelnde Gefühl der geforderten Selbständigkeit umkleidet diese Erzeugnisse mit einem allerersten, nie wiederkehrenden berückenden Zauber. Alle Verwegenheiten der Natur sind aus ihrer Tiefe hervorgerufen, alle Eitelkeiten, durch keine mächtigere Schranke zurückgehalten, dürfen zum ersten Male eine litterarische Form annehmen: der junge Mensch empfindet sich von jetzt ab