Tage verbringe. Am wenigsten sei ein hochmüthiger Dünkel die Ursache eines solchen Entschlusses gewesen.
»Zuviel,« sagte der rechtschaffne Jünger, »habe ich von Ihnen, mein Lehrer, gehört, zu lange bin ich in Ihrer Nähe gewesen, um mich an unser bisherige? Bildungs- und Erziehungswesen gläubig hingeben zu können. Ich empfinde zu deutlich jene heillosen Irrthümer und Mißstände, auf die Sie mit dem Finger zu zeigen pflegten: und doch merke ich wenig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tapferem Kampfe, Erfolge haben würde, mit der ich die Bollwerke dieser angeblichen Bildung zertrümmern könnte. Eine allgemeine Muthlosigkeit überkam mich: die Flucht in die Einsamkeit war nicht Hochmuth, nicht Überhebung.« Darauf hatte er, zu seiner Entschuldigung, die allgemeine Signatur dieses Bildungswesens so beschrieben, daß der Philosoph nicht umhin konnte, mit mitleidiger Stimme ihm in’s Wort zu fallen und ihn so zu beruhigen.
»Nun, halt einmal still, mein armer Freund«, sagte er; »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorhin kein so hartes Wort sagen sollen. Du hast in Allem Recht, nur nicht in deiner Muthlosigkeit. Ich will dir jetzt Etwas zu deinem Troste sagen. Wie lange glaubst du wohl, daß das auf dir so schwer lastende Bildungsgebahren in der Schule unsrer Gegenwart noch dauern werde? Ich will dir meinen Glauben darüber nicht vorenthalten: seine Zeit ist vorüber, seine Tage sind gezählt. Der Erste, der es wagen wird, auf diesem Gebiete ganz ehrlich zu sein, wird den Wiederhall seiner Ehrlichkeit aus tausend muthigen Seelen zu hören bekommen. Denn im Grunde ist unter den edler begabten und wärmer fühlenden Menschen dieser Gegenwart ein stillschweigendes Einverständniß: Jeder von ihnen weiß, was er von den Bildungszuständen der Schule zu leiden hatte. Jeder möchte seine Nachkommen mindestens von dem gleichen Drucke erlösen, wenn er sich auch selbst preisgeben müßte. Daß aber trotzdem es nirgends zur vollen Ehrlichkeit kommt, hat seine traurige Ursache in der pädagogischen Geistesarmuth unserer Zeit; es fehlt gerade hier an wirklich erfinderischen Begabungen, es fehlen hier die wahrhaft praktischen Menschen, das heißt diejenigen, welche gute und neue Einfälle haben und welche wissen, daß die rechte Genialität und die rechte Praxis sich nothwendig im gleichen Individuum begegnen müssen: während den nüchternen Praktikern es gerade an Einfällen und deshalb wieder an der rechten Praxis fehlt.
Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Litteratur dieser Gegenwart vertraut; an Dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmuth und über einen wahrhaft täppischen Cirkeltanz erschrickt. Hier muß unsere Philosophie nicht mit dem Erstaunen, sondern mit dem Erschrecken beginnen: wer es zu ihm nicht zu bringen vermag, ist gebeten, von den pädagogischen Dingen seine Hände zu lassen. Das Umgekehrte war freilich bisher die Regel; Diejenigen, welche erschraken, liefen wie du, mein armer Freund, scheu davon, und die nüchternen Unerschrocknen legten ihre breiten Hände recht breit auf die allerzarteste Technik, die es in einer Kunst geben kann, auf die Technik der Bildung. Das wird aber nicht lange mehr möglich sein; es mag nur einmal der ehrliche Mann kommen, der jene guten und neuen Einfälle hat und zu deren Verwirklichung mit allem Vorhandenen zu brechen wagt, er mag nur einmal an einem großartigen Beispiel es vormachen, was jene bisher allein thätigen breiten Hände nicht nachzumachen vermögen – dann wird man wenigstens überall anfangen zu unterscheiden, dann wird man wenigstens den Gegensatz spüren und über die Ursachen dieses Gegensatzes nachdenken können, während jetzt noch so Viele in aller Gutmüthigkeit glauben, daß die breiten Hände zum pädagogischen Handwerk gehören.«
»Ich möchte, mein geehrter Lehrer,« sagte hier der Begleiter, »daß Sie mir an einem einzelnen Beispiele selbst zu jener Hoffnung verhülfen, die aus Ihnen so muthig zu mir redet. Wir kennen Beide das Gymnasium; glauben Sie zum Beispiel auch in Hinsicht auf dieses Institut, daß hier mit Ehrlichkeit und guten, neuen Einfällen die alten zähen Gewohnheiten aufgelöst werden könnten? Hier schützt nämlich, scheint es mir, nicht eine harte Mauer gegen die Sturmböcke eines Angriffs, wohl aber die fatalste Zähigkeit und Schlüpfrigkeit aller Principien. Der Angreifende hat nicht einen sichtbaren und festen Gegner zu zermalmen: dieser Gegner ist vielmehr maskirt, vermag sich in hundert Gestalten zu verwandeln und in einer derselben dem packenden Griffe zu entgleiten, um immer von Neuem wieder durch feiges Nachgeben und zähes Zurückprallen den Angreifenden zu verwirren. Gerade das Gymnasium hat mich zu einer muthlosen Flucht in die Einsamkeit gedrängt, gerade weil ich fühle, daß, wenn hier der Kampf zum Siege führt, alle anderen Institutionen der Bildung nachgeben müssen, und daß, wer hier verzagen muß, überhaupt in den ernstesten pädagogischen Dingen verzagen muß. Also, mein Meister, belehren Sie mich über das Gymnasium: was dürfen wir für eine Vernichtung des Gymnasiums, was für eine Neugeburt desselben hoffen?«
»Auch ich,« sagte der Philosoph, »denke von der Bedeutung des Gymasiums so groß als du: an dem Bildungsziele, das durch das Gymnasium erstrebt wird, müssen sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz leiden sie mit, durch die Reinigung und Erneuerung desselben werden sie sich gleichfalls reinigen und erneuern. Eine solche Bedeutung als bewegender Mittelpunkt kann jetzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten darf; wie ich dir dies später deutlich machen will. Für jetzt betrachten wir Das mit einander, was in mir den hoffnungsvollen Gegensatz erzeugt, daß entweder der bisher gepflegte, so buntgefärbte und schwer zu erhaschende Geist des Gymnasiums völlig in der Luft zerstieben wird oder daß er von Grund aus gereinigt und erneuert werden muß: und damit ich dich nicht mit allgemeinen Sätzen erschrecke, denken wir zuerst an eine jener Gymnasialerfahrungen, die wir Alle gemacht haben und an denen wir Alle leiden. Was ist jetzt, mit strengem Auge betrachtet, der deutsche Unterricht auf dem Gymnasium?
Ich will dir zuerst sagen, was er sein sollte. Von Natur spricht und schreibt jetzt jeder Mensch so schlecht und gemein seine deutsche Sprache, als es eben in einem Zeitalter des Zeitungsdeutsches möglich ist: deshalb müßte der heranwachsende edler begabte Jüngling mit Gewalt unter die Glasglocke des guten Geschmacks und der strengen sprachlichen Zucht gesetzt werden: ist dies nicht möglich, nun so ziehe ich nächstens wieder vor Lateinisch zu sprechen, weil ich mich einer so verhunzten und geschändeten Sprache schäme.
Was für eine Aufgabe hätte eine höhere Bildungsanstalt in diesem Punkte,