jetzt die »sociale Frage«. Es möchte nämlich dieser Masse so scheinen, daß demnach die Bildung für den größten Theil der Menschen nur ein Mittel für das Erdenglück der Wenigsten sei: die »möglichst allgemeine Bildung« schwächt die Bildung so ab, daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann. Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbarei. Doch ich will deine Erörterung nicht unterbrechen.«
Der Begleiter fuhr fort: »Es giebt noch andere Motive für die überall so tapfer angestrebte Erweiterung und Verbreitung der Bildung, außer jenem so beliebten nationalökonomischen Dogma. In einigen Ländern ist die Angst vor einer religiösen Unterdrückung so allgemein und die Furcht vor den Folgen dieser Unterdrückung so ausgeprägt, daß man in allen Gesellschaftsklassen der Bildung mit lechzender Begierde entgegenkommt und gerade die Elemente derselben einschlürft, welche die religiösen Instinkte aufzulösen pflegen. Anderwärts hinwiederum strebt ein Staat hier und da um seiner eignen Existenz willen nach einer möglichsten Ausdehnung der Bildung, weil er sich immer noch stark genug weiß, auch die stärkste Entfesselung der Bildung noch unter sein Joch spannen zu können, und es bewährt gefunden hat, wenn die ausgedehnteste Bildung seiner Beamten oder seiner Heere zuletzt immer nur ihm selbst, dem Staate, im Wetteifer mit anderen Staaten, zu gute kommt. In diesem Falle muß das Fundament eines Staates eben so breit und fest sein, um das complicirte Bildungsgewölbe noch balanciren zu können, wie im ersten Falle die Spuren einer früheren religiösen Unterdrückung noch fühlbar genug sein müssen, um zu einem so verzweifelten Gegenmittel zu drängen. Wo also nur das Feldgeschrei der Masse nach weitester Volksbildung verlangt, da pflege ich wohl zu unterscheiden, ob eine üppige Tendenz nach Erwerb und Besitz, ob die Brandmale einer früheren religiösen Unterdrückung, ob das kluge Selbstgefühl eines Staates zu diesem Feldgeschrei stimulirt hat.
Dagegen wollte es mir erscheinen, als ob zwar nicht so laut, aber mindestens so nachdrücklich von verschiedenen Seiten aus eine andere Weise angestimmt würde, die Weise von der Verminderung der Bildung.
Man pflegt sich etwas von dieser Weise in allen gelehrten Kreisen in’s Ohr zu flüstern: die allgemeine Thatsache, daß mit der jetzt angestrebten Ausnützung des Gelehrten im Dienste seiner Wissenschaft die Bildung des Gelehrten immer zufälliger und unwahrscheinlicher werde. Denn so in die Breite ausgedehnt ist jetzt das Studium der Wissenschaften, daß, wer, bei guten, wenngleich nicht extremen Anlagen, noch in ihnen Etwas leisten will, ein ganz specielles Fach betreiben wird, um alle übrigen dann aber unbekümmert bleibt. Wird er nun schon in seinem Fach über dem vulgus stehen, in allem Übrigen gehört er doch zu ihm, das heißt in allen Hauptsachen. So ein exklusiver Fachgelehrter ist dann dem Fabrikarbeiter ähnlich, der, sein Leben lang, nichts Anderes macht als eine bestimmte Schraube oder Handhabe, zu einem bestimmten Werkzeug oder zu einer Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt. In Deutschland, wo man versteht, auch solchen schmerzlichen Thatsachen einen gloriosen Mantel des Gedankens überzuhängen, bewundert man wohl gar diese enge Fachmäßigkeit unserer Gelehrten und ihre immer weitere Abirrung von der rechten Bildung als ein sittliches Phänomen: die »Treue im Kleinen«, die »Kärrnertreue« wird zum Prunkthema, die Unbildung jenseits des Fachs wird als Zeichen edler Genügsamkeit zur Schau getragen.
Es sind Jahrhunderte vergangen, in denen es sich von selbst Verstand, daß man unter einem Gebildeten den Gelehrten und nur den Gelehrten begriff; von den Erfahrungen unserer Zeit aus würde man sich schwerlich zu einer so naiven Gleichstellung veranlaßt fühlen. Denn jetzt ist die Ausbeutung eines Menschen zu Gunsten der Wissenschaften die ohne Anstand überall angenommene Voraussetzung: wer fragt sich noch, was eine Wissenschaft werth sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht? Die Arbeitstheilung in der Wissenschaft strebt praktisch nach dem gleichen Ziele, nach dem hier und da die Religionen mit Bewußtsein streben: nach einer Verringerung der Bildung, ja nach einer Vernichtung derselben. Was aber für einige Religionen, gemäß ihrer Entstehung und Geschichte, ein durchaus berechtigtes Verlangen ist, dürfte für die Wissenschaft irgendwann einmal eine Selbstverbrennung herbeiführen. Jetzt sind wir bereits auf dem Punkte, daß in allen allgemeinen Fragen ernsthafter Natur, vor Allem in den höchsten philosophischen Problemen der wissenschaftliche Mensch als solcher gar nicht mehr zu Worte kommt: wohingegen jene klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt hat, die Journalistik, hier ihre Aufgabe zu erfüllen glaubt und sie nun ihrem Wesen gemäß ausführt, das heißt wie der Name sagt, als eine Tagelöhnerei.
In der Journalistik nämlich fließen die beiden Richtungen zusammen: Erweiterung und Verminderung der Bildung reichen sich hier die Hand; das Journal tritt geradezu an die Stelle der Bildung, und wer, auch als Gelehrter, jetzt noch Bildungsansprüche macht, pflegt sich an jene klebrige Vermittlungsschicht anzulehnen, die zwischen allen Lebensformen, allen Ständen, allen Künsten, allen Wissenschaften die Fugen verkittet und die so fest und zuverlässig ist wie eben Journalpapier zu sein pflegt. Im Journal culminirt die eigenthümliche Bildungsabsicht der Gegenwart: wie ebenso der Journalist, der Diener des Augenblicks, an die Stelle des großen Genius, des Führers für alle Zeiten, des Erlösers vom Augenblick, getreten ist. Nun sagen Sie mir selbst, mein ausgezeichneter Meister, was ich mir für Hoffnungen machen sollte, im Kampfe gegen eine überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen, mit welchem Muthe ich, als einzelner Lehrer, auftreten dürfte, wenn ich doch weiß, wie über jede eben gestreute Saat wahrer Bildung sofort schonungslos die zermalmende Walze dieser Pseudo-Bildung hinweggehn würde? Denken Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch derselbe Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt.« – –
»Nun halt einmal still!« rief hier der Philosoph mit starker und mitleidiger Stimme dazwischen, »ich begreife dich jetzt besser und hätte dir vorher kein so böses Wort sagen sollen. Du hast in Allem Recht, nur nicht in deiner Muthlosigkeit. Ich will dir jetzt Etwas zu deinem Troste sagen.«
Zweiter Vortrag.
(Gehalten