Regina Muhlhauser

Eroberungen


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in der Sowjetunion zählt offenbar die Vergewaltigung eines jungen Mädchens, das sexuell unerfahren war und gar nicht wusste, wie ihm geschah, zu diesen Skripten.[175] Die Häufigkeit dieses Motivs lässt nicht unbedingt darauf schließen, dass es besonders oft zu sexuellen Gewalttaten gegen junge Mädchen kam. Sie deutet vielmehr darauf hin, dass diese Erzählung in der herrschenden Geschichtsdeutung autorisiert und damit im Unterschied zu anderen kommunikabel ist.[176] Tatsächlich spielte die Figur des» kleinen Mädchens«, das den» vielen Faschisten «hilf- und schutzlos ausgeliefert war und vergewaltigt und getötet wurde, nach 1945 auch in sowjetischen Lehrbüchern eine wichtige Rolle.[177]

      In zahlreichen Erzählungen wird die tatsächliche und symbolische Unschuld des reinen,»jungfräulichen «Mädchens noch dadurch betont, dass es seiner schützenden Familienstrukturen beraubt ist. Jelena Jefimowna Borodjanskaja-Knysch erinnert sich daran, wie eine Gruppe deutscher Männer eine junge Frau angriff, als sie mit anderen Jüdinnen und Juden in der Schlucht von Babi Jar[178] (Ukraine) ankam:

      Niemals werde ich die fünfzehnjährige Sara vergessen. Es fällt schwer, die Schönheit dieses Mädchens zu beschreiben. Die Mutter raufte sich die Haare und rief mit herzzerreißender Stimme:»Tötet uns gemeinsam«… Die Mutter erschlugen sie mit dem Gewehrkolben, mit dem Mädchen hatten sie es nicht eilig: Fünf oder sechs Deutsche zogen sie splitternackt aus, was weiter geschah – ich weiß es nicht, ich habe es nicht gesehen.[179]

      Borodjanskaja-Knysch bricht ihre Schilderung mit der erzwungenen Nacktheit des Mädchens ab. Sie habe nicht gesehen, was danach passierte. Dies mag stimmen oder nicht. Bemerkenswert ist, dass viele Erzählungen zu sexueller Gewalt so abrupt abbrechen. Der eigentliche Akt bleibt unausgesprochen. In der Tat wird vergleichsweise oft eine bestimmte Situation en détail beschrieben, während die dann folgende Gewalttat ausgespart wird.[180] Damit wird auf ein kollektives Imaginäres verwiesen, auf bestimmte Bilder vom Ablauf einer Vergewaltigung, die die Adressatinnen und Adressaten der Erzählung im Kopf haben. Die Vorstellung dessen, was passiert ist, bleibt deren Fantasie überlassen.

      Borodjanskaja-Knyschs Formulierung» mit dem Mädchen hatten sie es nicht eilig «dient auch dem Zweck, den Grad an Perversion zu belegen, den die von Wehrmacht, SS und Polizei verübte Gewalt annehmen konnte. Sara Horowitz geht davon aus, dass Vergewaltigung in vielen Erzählungen über den Holocaust» eine treffende Metapher für drastische Folter «darstellt. Vergewaltigung repräsentiert eine extreme Form von Terror und Entwürdigung, die aber doch in den normalen Bezugsrahmen aller zeitgenössischen Gesellschaften gehört.[181] Tatsächlich werden Vergewaltigungen oft eher als allgemeines Phänomen thematisiert, eingebettet in eine Aufzählung verschiedener Verbrechen. So schildert der Journalist Ruwim Issajewitsch Fraerman, bei der Einnahme Lembergs[182] (Ukraine) Ende Juni 1941 durch die Deutschen sei es zu» Verwüstungen, Diebstahl, Mord und Vergewaltigungen «gekommen. In welchem Ausmaß die Deutschen einheimische Frauen vergewaltigten, wie dies vonstatten ging und wie darüber gesprochen wurde, bleibt unklar.[183] Die gesellschaftliche Praxis, Vergewaltigung als etwas zu behandeln, worüber man spricht, ohne genauer zu sagen, wer der oder die Täter, wer das oder die Opfer und welcher Art die Gewalttaten waren, wehrt jedoch die Frage nach den Ursachen und Motiven ab.[184]

      Kinder

      Eine der Fragen, mit denen sich manche Frauen nach sexuellen Zusammentreffen mit deutschen Soldaten auseinandersetzen mussten, war die einer Schwangerschaft. Wie im Verlauf dieses Buches noch dargestellt wird, entschieden sich manche Frauen für einen Abbruch, andere bekamen das Kind. Im Allgemeinen bezeichnet man diese Nachkommen einer einheimischen Frau und eines Besatzungssoldaten als» Besatzungskinder«. Damit sind Kinder, die in einer Kriegs- oder Besatzungssituation bei einer Vergewaltigung gezeugt werden, ebenso gemeint wie Kinder, die aus romantischen Verhältnissen stammen. Es gab und gibt sie nach fast allen Kriegen und in vielen Ländern. Abhängig von der jeweiligen Perspektive auf die Kriegs- und Besatzungssituation werden sie auch» Befreiungs-«,»Kollateral-«,»Kriegs-«,»Soldaten-«oder» Kollaborationskinder «genannt.[185]

      Im deutschen Sprachraum wird der Begriff Besatzungskinder heute vor allem für Kinder verwendet, die nach dem Ersten Weltkrieg während der sogenannten Rheinlandbesetzung (1918–1930)[186] oder nach dem Zweiten Weltkrieg als Kinder von alliierten Soldaten gezeugt wurden.[187] Im Duden aus dem Jahr 1999 heißt es unter dem Eintrag» Besatzungskind«:»Kind eines [farbigen] Besatzungsangehörigen u. einer einheimischen Frau«.[188] Diese Definition ist insofern zutreffend, als sich die öffentliche Diskussion über die Bedeutung und die Rolle der Besatzungskinder (fast) immer um die äußerlich Erkennbaren, um die Kinder nichtweißer Hautfarbe, drehte.[189] Sie wurden nicht nur als gesellschaftliche Schande wahrgenommen, sondern als» Mischlingskinder «darüber hinaus rassistischen Diskriminierungen und Ausgrenzungen unterworfen.[190] Trotz dieser besonderen Position, in der sich Kinder schwarzer Väter befinden, werden in der Forschung sowie von Betroffenenverbänden aber auch jene Kinder als Besatzungskinder bezeichnet, deren Väter weiße Besatzungssoldaten waren.[191]

      Heide Fehrenbach hat gezeigt, dass westdeutsche Kommentatoren in den 1950er Jahren das» Kinderproblem «der Nachkriegszeit als Ergebnis der» Fremdbesatzung «und deswegen nicht als deutsches, sondern als importiertes Problem betrachteten.[192] Und auch in der deutschen Medienberichterstattung der vergangenen Jahre wurden in erster Linie die biologischen Erzeuger der Kinder für deren häufig schwieriges Leben verantwortlich gemacht.[193] Oft werden die alliierten Soldaten dabei als herz- und rücksichtslose Angehörige der Siegermächte dargestellt, die Frauen geschwängert und dann keinen weiteren Gedanken an sie verschwendet hätten[194] – eine Sichtweise, die sich nahtlos in die deutsche Selbstwahrnehmung als Opfer von Bombenkrieg und alliierter Besatzung einfügt.[195]

      Während die Kinder alliierter Soldaten und deutscher Frauen mit solchen Schilderungen einen festen Platz in der deutschen Erinnerung an die Kriegs- und Nachkriegszeit einnehmen, werden die Kinder, die deutsche Männer zwischen 1939 und 1945 in Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Rumänien, in Jugoslawien, Griechenland und Italien gezeugt haben, bis heute weitgehend verdrängt.[196] Auf die Existenz dieser Kinder wurde die deutsche Öffentlichkeit erst im Frühjahr 2001 aufmerksam, als sieben Betroffene eine Entschädigungsklage vor dem Osloer Stadtgericht einreichten. Sie waren während der deutschen Besatzung in Norwegen zwischen 1940 und 1945 geboren worden; ihre Mütter sind Norwegerinnen, ihre Väter Deutsche. Während der Besatzung hatte das NS-Regime ihnen besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn als Träger» rassisch wertvollen Blutes «sollten sie zu» deutschen Vorposten im norwegischen Volk «werden.[197] Nach dem Sieg über Deutschland folgte dieser besonderen Zuwendung eine entschiedene Ablehnung: Wegen ihrer Abstammung von Deutschen wurden die Kinder in der norwegischen Gesellschaft und sogar von staatlicher Seite diskriminiert. Sie wuchsen in Heimen, Pflegefamilien, bei ihren Müttern oder deren Verwandten auf, oft ohne Details ihrer Herkunft zu kennen. Ihre Erziehungsberechtigten schwiegen beharrlich, während Kinder, Lehrer, Nachbarn und oft auch ihre nächsten Angehörigen sie als» Deutschenbastarde «beschimpften. Die meisten fühlten sich minderwertig oder schämten sich, häufig ohne zu wissen, warum.