Regina Muhlhauser

Eroberungen


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1997) sowie mit dem im Jahr 2000 in Kraft getretenen Statut des ständigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag (IStGH) wurden sexuelle Gewalttaten im Völkerrecht neu bewertet und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Kriegsverbrechen und Völkermord kodifiziert.[218] In die neue Rechtsprechung flossen auch Erkenntnisse aus der feministischen Forschung ein. Maßgebend ist die Einsicht, dass die Ausübung sexueller Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten kein vereinzeltes» Kavaliersdelikt «ist, sondern regelhaft ausgeübt wird, um das gegnerische Kollektiv zu schädigen. Da zum Auftrag einer Armee gemeinhin auch der Schutz und die Verteidigung der» eigenen «Frauen gehören, ist es naheliegend, dass die Frauen des Gegners zu einem zentralen Angriffsziel werden können. Sie verkörpern nicht nur das zu verteidigende Territorium; sondern gelten auch als diejenigen, die das (biologische und soziale) Fortleben einer Gesellschaft sichern und ihre Kultur vermitteln.[219] Ein Angriff auf die sexuelle Identität, Intimsphäre und Reproduktionsfähigkeit vermag daher zu einer Waffe zu werden, um das soziale Gefüge, die Kultur und die biologischen Grundlagen des Gegners zu zerstören.[220] In den Worten Ruth Seiferts ausgedrückt, stellt der weibliche Körper eine» symbolische Repräsentation des Volkskörpers «dar, womit die Vergewaltigung von Frauen zur» symbolischen Vergewaltigung des Körpers dieser Gemeinschaft «wird.[221]

      Diese neue Betrachtungsweise sexueller Gewalt ist seit den 1990er Jahren international auf viel Resonanz gestoßen. Inzwischen konzentriert sich die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema immer stärker auf Vergewaltigung als Waffe in genozidalen Konflikten; die geschlechtsspezifischen Aspekte des Verbrechens drohen dabei gar verdrängt oder verleugnet zu werden.[222] Vor diesem Hintergrund ist die neuere Rechtsprechung bereits wieder in die Kritik geraten.[223] Unabhängig von solchen Erwägungen zu den gesellschaftspolitischen Interpretationen und der juristischen Praxis haben jedoch gerade die Entwicklungen im Völkerrecht dazu geführt, dass der Blick auf sexuelle Gewaltverbrechen in den letzten Jahren wesentlich genauer geworden ist. Insbesondere die Ausdifferenzierung der Tatbestände danach, ob es sich um erzwungene Nacktheit, sexuelle Folter, Vergewaltigung mit dem Penis, Vergewaltigung mit den Händen, Vergewaltigung mit Gegenständen, sexuelle Versklavung, erzwungene Prostitution, Zwangsschwängerung oder erzwungene Schwangerschaft[224] handelt, macht das Spektrum der Verbrechen – die Unterschiedlichkeit der Motive, des Geschehens, der Funktionen und der Bedeutungen – deutlich.[225]

      Im Zusammenhang damit hat sich auch gezeigt, dass ein Teil der sexuellen Gewalttaten die vorherrschenden geschlechtsspezifischen Erwartungen unterläuft. So kennen wir heute zum Beispiel einige Fälle, in denen Frauen die Männer in ihrer Umgebung zu sexueller Gewalt (gegen Frauen und gegen Männer) angestiftet oder derartige Taten selbst verübt haben.[226] Die detaillierte Dokumentation sexueller Gewalttaten in kriegerischen Konflikten, die in den letzten Jahren vor allem von Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch durchgeführt worden ist, belegt überdies, dass es in vielen bewaffneten Konflikten zu sexueller Gewalt gegen Männer kommt – laut Ruth Seifert eines der» am besten gehüteten Tabus unserer Kultur«.[227] Nach der Auffassung der Opfer wie auch der Täter wird ein Mann durch seine sexuelle Unterwerfung feminisiert und zumindest symbolisch aus dem männlichen Herrschaftsverbund ausgeschlossen.[228] Bis heute ist es daher für viele Männer unmöglich, sich (und anderen) einzugestehen, zum Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Tatsächlich ist gerade Vergewaltigung ein Begriff, der fast ausschließlich für Gewalttaten gegen Frauen reserviert bleibt. Antije Krog interpretiert dies als sexistische Abgrenzung:»Dadurch machen sie [die Männer, R. M.] Vergewaltigung zu einer Frauensache.«[229]

      Im Lichte derartiger Debatten, die deutlich machen, dass das Phänomen sexuelle Gewalt weitaus vielschichtiger ist, als lange angenommen, sollen im Folgenden die historischen Quellen betrachtet werden. Dabei definiere ich manche Gewaltakte als sexuell, die von den Zeitzeuginnen und – zeugen vermutlich nicht (oder jedenfalls nicht bewusst) so verstanden worden sind.[230] Erzwungenes Auskleiden oder Leibesvisitationen beispielsweise lassen sich durchaus als sexuelle Übergriffe deuten, zumal wenn sie mit anderen Gewaltformen einhergehen. Ebenso wird die Begutachtung des Penis, um zu überprüfen, ob ein Mann beschnitten ist – und daraus Rückschlüsse auf seine Religion zu ziehen —, in der Forschung immer häufiger als Angriff gegen die sexuelle Integrität von Jungen und Männern gewertet.[231]

      Im deutschsprachigen Raum wird heute oftmals der Begriff sexualisierte Gewalt für die hier zur Debatte stehenden Gewalttaten verwendet. Dahinter steht der Gedanke, dass es bei dieser Form von Gewalt nicht um Sexualität geht, sondern um» die Ausübung von Macht auf Seiten der Täter, um Erniedrigung, Demütigung und Zerstörung«, wie Karin Griese es in ihrer Einleitung zu dem Sammelband» Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen «formuliert.[232] Den Anstoß zu solchen Überlegungen gab Susan Brownmiller 1975 in ihrem Buch» Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft«, in dem sie die vorherrschende gesellschaftliche Annahme, Vergewaltigung sei sexuell motiviert, als Ursache dafür ausmachte, dass Frauen eine (Mit-)Schuld für ihre Vergewaltigung zugesprochen bekamen. Die gängigen Vorstellungen von männlicher und weiblicher Sexualität suggerierten laut Brownmiller, Frauen würden erobert und vergewaltigt werden wollen – eine Sichtweise, die sie als Männerphantasien zurückwies.[233] Stattdessen vertrat sie die These, Sexualität stelle bei Vergewaltigungsfällen kein eigenständiges Motiv dar, sondern sei lediglich ein Machtmittel, mit dem Männer Frauen unterwerfen.[234]

      Solche Thesen von Brownmiller und anderen haben einen Prozess des Umdenkens ausgelöst. Frauen wird bei Vergewaltigungen zwar nach wie vor häufig eine (Mit-)Schuld unterstellt, dennoch haben sich Medienberichterstattung und Rechtsprechung seit den 1970er Jahren in vielen Ländern deutlich verändert. Brownmillers Trennung von Gewalt (als Effekt patriarchaler Macht) und Sexualität (als Ausdruck oder Mittel dieser Macht) ist gleichwohl problematisch. Denn sie verschleiert das Spezifische dieser Art von Gewalttaten. Sie negiert, dass auch gewaltsamer Sex Sexualität ist: Ein Vergewaltiger empfindet Lust, er genießt es, den (physisch und psychisch verfassten) Körper eines anderen Menschen gegen dessen Willen in Besitz zu nehmen. Und diejenigen, die in einer solchen Situation Ohnmacht erfahren, sind nicht nur mit den Aggressionen des Angreifers konfrontiert, sondern auch mit seiner sexuellen Übermacht.[235]

      In Abgrenzung von Brownmiller begreift Ann Cahill Vergewaltigung als» verkörperte Erfahrung«. Eine Person wird zum Opfer, weil sie im Moment der Tat auf ihre körperlichen Eigenschaften als Frau oder Mann reduziert wird. Und genau diese Reduktion macht den Angriff immer auch sexuell. Dabei erachtet Cahill es als zweitrangig, ob die Motivation des Täters primär sexuell ist oder in seinem Bedürfnis nach Macht begründet liegt. Sie macht vielmehr deutlich, dass beides untrennbar miteinander verwoben ist,[236] und wird damit meines Erachtens der Spezifik des Phänomens eher gerecht. Im Anschluss an Cahill spreche ich daher hier von sexueller Gewalt.[237]

      Welche unterschiedlichen Formen diese im Kontext des Vernichtungskrieges in der Sowjetunion annehmen konnte, wird im Folgenden dokumentiert. Dabei unterscheide ich zunächst zwischen unterschiedlichen Kriegs- und Besatzungssituationen. Gegen wen richteten sich die Gewaltakte; machten die Täter Unterschiede im Hinblick auf den nationalen, ethnischen oder religiösen Hintergrund der Opfer? Und welche Funktionen erfüllte sexuelle Gewalt – für sich genommen, aber auch an andere Gewaltformen gekoppelt? Im Anschluss an diese Fragen gehe ich dann der Innensicht der