Regina Muhlhauser

Eroberungen


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      Erinnerungserzählungen von Zeitzeuginnen und – zeugen weisen auch explizit auf sexuelle Gewalttaten während der sogenannten Judenaktionen hin. Mehrere machen beispielsweise die Nacktheit zum Thema, die während der Massenerschießungen grundsätzlich eine große Rolle spielte. Vor den Exekutionen wurde Männern, Frauen und Kindern befohlen, sich auszukleiden und sich in Unterwäsche oder ganz nackt aufzustellen. Die Aufseher sammelten die Kleidungsstücke neben den Erschießungsgruben, um sie anderweitig zu verwerten.[422] Zu dem bereits erwähnten Massaker in der ukrainischen Stadt Kamenetz-Podolsk Ende August 1941[423] sagte der ehemalige Kommandeur eines Schutzpolizeibataillons nach dem Krieg vor einer sowjetischen Kommission aus, die Frauen hätten sich häufig geweigert, ihre Kleidung abzulegen. Die Aufseher hätten sie ihnen daraufhin mit Gewalt vom Körper gerissen, sie» ins Gesicht und auf die Brüste «geschlagen und» mit Stiefeln in die Geschlechtsorgane «getreten.[424] In zahlreichen Berichten über andere Orte finden sich entsprechende Schilderungen.[425] Mitunter weigerten sich auch Männer, ihre Kleidung abzulegen.[426] Männliche Gefangene und sogar Kinder wurden in die Geschlechtsteile getreten, verbunden mit Kommentaren über ihre Fortpflanzungsfähigkeit. Der russische Frontberichterstatter Wladimir Germanowitsch Lidin berichtet von einem SS-Mann, der einem Jungen mit dem Stiefel in den Penis getreten und dabei» Nun vermehre dich!«gerufen habe.[427]

      Tatsächlich wird das Auskleiden in den Schilderungen von Verfolgten immer wieder als besondere Demütigung beschrieben.[428] Speziell für Frauen war diese Nacktheit mit Schamgefühlen belegt. Bei der» Evakuierung «des Rigaer Ghettos im Dezember 1941 exekutierten deutsche Truppen mithilfe lettischer Verbände die Jüdinnen und Juden im nahe gelegenen Wald von Rumbuli.[429] Die junge Jüdin Frieda Fried-Michelson überlebte. In einem unbeobachteten Moment gelang es ihr, sich in eine Grube mit Leichen fallen zu lassen und sich tot zu stellen. Während der folgenden Nacht konnte sie fliehen. In ihren Memoiren» I survived Rumbuli «beschreibt sie die Prozedur vor der Exekution:

      Unsere Kolonne wurde in mehrere Schübe aufgeteilt, und alle mußten sich auf Befehl entkleiden. Ich zog mich ebenfalls bis auf die Unterwäsche aus, doch dann schämte ich mich, denn rundherum standen Männer und ich hatte nur ein Hemdchen an.[430]

      Nicht nur die Nacktheit vor den Verfolgern stellte für Fried-Michelson eine Demütigung dar; auch die körperliche Entblößung vor den Männern und Frauen, mit denen sie seit Jahren zusammengelebt hatte, erzeugte Pein und Beschämung. Wie Marion Kaplan zeigt, dürfte dies insbesondere für orthodoxe Jüdinnen gegolten haben, die mit einer strikten Trennung der Geschlechter aufgewachsen waren.[431]

      Nicht selten mussten die Opfer längere Zeit nackt stehen bleiben, bevor sie an die Erschießungsgruben geführt wurden. Die Angehörigen der Exekutionskommandos hatten also Gelegenheit, ihrer Schaulust zu frönen.[432] Sie betrachteten die nackten Frauen unverhohlen und äußerten sich über ihre vermeintlichen körperlichen Vorzüge und Nachteile.[433] In manchen Fällen standen Männer mit Fotoapparaten am Grubenrand.[434] Überliefert sind auch Geschichten, denen zufolge sich deutsche Männer Trophäen, etwa die Unterwäsche einer Frau,»zum Andenken an eine schöne Jüdin «in die Tasche steckten.[435] Ihre in dieser Situation unbegrenzte Macht konnte die Täter zudem dazu verleiten, sadistische Sexualfantasien auszuleben, wie ein Beispiel aus Polen deutlich macht. Bei der» Evakuierung «des Ghettos in Tarnów am 11. Juni 1942 erschoss ein» volksdeutscher «Dolmetscher eine Jüdin und urinierte auf ihre Leiche.[436]

      An einigen Orten scheint es direkt vor den Massenerschießungen auch zu Vergewaltigungen gekommen zu sein. Anfang August 1941 marschierte die Einsatzgruppe 9 in Wilna ein und ermordete in den folgenden fünf Monaten mithilfe von Wehrmachtseinheiten und litauischen Milizen (Ypatingasis Būrys) drei Viertel der ansässigen Jüdinnen und Juden.[437] Am 23. August 1941 notierte der polnische Journalist Kazimierz Sakowicz, dass eine Gruppe Jüdinnen mit dem Bus aus Wilna im Ortsteil Ponar eingetroffen sei. Nach ihrer Ankunft sei etwa eine Stunde» bis zum ersten Schuss «vergangen. Später hörte Sakowicz ein Gespräch litauischer Kollaborateure mit, die selbst schon an Erschießungen beteiligt gewesen waren. Sie unterstellten den Deutschen, während dieser Stunde»›ihre Rasse mit den Jüdinnen besudelt zu haben‹«. Sakowicz hielt dies vor allem für eifersüchtiges Gerede der Litauer, die diese Erschießungen gern selbst übernommen hätten, war sich aber nicht sicher, ob nicht doch etwas Wahres daran war. Er betont, die Frauen seien vor ihrer Exekution jedenfalls nackt gewesen.[438]

      Auch Überlebende des Massakers von Babi Jar berichteten von sexuellen Gewalttaten direkt vor den Erschießungen. Am 19. September 1941 eroberte die 6. Armee Kiew. Seit geraumer Zeit war den deutschen Behörden bekannt, dass hier mit vermuteten 150000 Menschen die größte jüdische Gemeinde im Bereich des deutschen Ostfeldzugs lebte. Soldaten einzelner Fronteinheiten begannen umgehend damit, jüdische Männer und zum Teil auch Frauen an das Sonderkommando 4a zu übergeben. Nach Sprengstoffanschlägen auf mehrere Gebäude im Stadtzentrum, darunter Militärquartiere, am 24. September wurden vier Tage später in der ganzen Stadt 2000 Plakate ausgehängt, die die jüdische Bevölkerung aufforderten, sich am folgenden Tag an einer Straßenkreuzung im Nordwesten der Stadt zu versammeln. Von dort wurden die Menschen zur Schlucht von Babi Jahr getrieben. Zwei Tage dauerten die Massenerschießungen, denen fast 34000 Menschen zum Opfer fielen.[439] Die jüdische Ukrainerin Dina Mironowna Pronitschewa überlebte dieses Massaker, indem sie einen Wachposten davon überzeugte, dass sie keine Jüdin und nur zufällig in die Gruppe geraten sei. In der Reihe, in der sie sich zunächst aufgestellt hatte, um ihre Kleidungsstücke und Wertgegenstände abzulegen, verlor sie ihre Eltern. Als sie anfing, nach ihnen zu suchen, trat ein uniformierter Deutscher auf sie zu und forderte sie auf,»mit ihm schlafen zu gehen«. Er stellte ihr in Aussicht, sie danach freizulassen:»Sie sah ihn an wie einen Geistesgestörten, er ging weiter. «Pronitschewa überlebte, aber ihre Eltern wurden in der Schlucht von Babi Jar erschossen.[440]

      Im Protokoll der Brester Kommission zur Untersuchung der faschistischen Verbrechen[441] findet sich eine weitere Zeugenaussage über Vergewaltigungen direkt vor Exekutionen. Bereits in den ersten Tagen und Wochen der deutschen Besatzung hatte das Polizeibataillon 307 in Brest-Litowsk etwa 4000 Juden ermordet. Im Dezember 1941 richteten die deutschen Machthaber ein Ghetto ein. Vom 15. bis 18. Oktober 1942 wurde das Ghetto geräumt. Die Polizeikompanie Nürnberg, Angehörige des SD, polnische Schutzmannschaften und das Polizeibataillon 310 sperrten das Ghetto ab und trieben seine Bewohnerinnen und Bewohner zusammen. Bereits dabei wurden viele Menschen an Ort und Stelle ermordet. Die Überlebenden wurden mit Zügen in die Nähe von Bronnaja Gora, etwa 110 Kilometer östlich von Brest-Litowsk, gebracht, wo man sie im Verlauf der folgenden Tage erschoss. Oscher Moissejewitsch Süsman, einer der wenigen Überlebenden, schilderte die» Säuberung «des Ghettos nach Kriegsende in einem Brief an die Untersuchungskommission:

      Durch die Lüftung habe ich gesehen, wie die deutschen Henker ihre Opfer vor der Exekution verhöhnt haben. Mit der Drohung, sie lebendig zu begraben, hat man sie gezwungen, sich völlig zu entkleiden. […] Ich bin im Keller an Ruhr erkrankt und konnte mich schon nicht mehr erheben, doch durch die Lüftung habe ich mit angesehen, wie die Deutschen junge Mädchen in den Schuppen neben den Gräbern gejagt und dort vor der Exekution vergewaltigt haben. Ich habe gehört, wie ein Mädchen um Hilfe gerufen und einem Deutschen in die Fresse geschlagen hat. Dafür haben