Regina Muhlhauser

Eroberungen


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institutionalisierten Massenmordes durchaus zu Vergewaltigungen kam, auch wenn die vereinzelten Verweise nicht den Rückschluss zulassen, dass Vergewaltigungen zu einem festen Bestandteil von Erschießungsaktionen wurden.[443]

      Verhandlungen innerhalb der Truppe

      Sechs Wochen vor dem Einmarsch in die Sowjetunion, am 13. Mai 1941, gab das OKW den» Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet ›Barbarossa‹ und die besonderen Maßnahmen der Truppe «heraus. Zusammen mit den» Richtlinien zur Behandlung politischer Kommissare «und den» Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Rußland «schuf er die Basis, um den bevorstehenden Krieg als» Vernichtungskampf «zu führen, wie Hitler es bereits im März 1941 gegenüber den Heerführern formuliert hatte.[444] Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass setzte fest, dass Verbrechen deutscher Soldaten gegen Zivilistinnen und Zivilisten im Zuge des Ostfeldzugs strafrechtlich nicht verfolgt werden sollten, sofern sie nicht die militärische Disziplin oder die Sicherheit der Truppe gefährdeten.[445] Statt einen Soldaten, der sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte, vor ein Kriegsgericht zu stellen und rechtskräftig verurteilen zu lassen, konnte der zuständige» Gerichtsherr«(in der Regel der Divisionskommandeur) nun eigenmächtig entscheiden, ob er eine Tat disziplinarisch ahndete. Abhängig davon, wann und wie den Soldaten, die in die Sowjetunion einmarschierten, der Erlass bekannt gegeben worden war, konnten sie ihn als Aufforderung auffassen, die einheimische Bevölkerung nicht zu schonen.[446] Die Rechtswidrigkeit des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses stand indes auch aus der zeitgenössischen Perspektive eindeutig fest.[447]

      Ausgenommen von dieser neuen Straffreiheit waren» schwere Taten, die auf geschlechtlicher Hemmungslosigkeit «oder» verbrecherischer Veranlagung «beruhten. Seit dem Ersten Weltkrieg glaubten vor allem konservative Militärärzte, in der überwiegenden Zahl der Fälle seien gesellschaftliche Außenseiter beziehungsweise deren individuelle Dispositionen für außerhalb des» Normalen «liegenden Taten, wie beispielsweise brutale Vergewaltigungen, verantwortlich. Mit der Abgrenzung von solchen Gewaltakten als» unnormal «konstruierten die Mediziner implizit auch die Rede vom» normalen Geschlechtsleben«– einem Ausleben von Sexualität, bei dem Männer sich zu mäßigen wussten.[448] Einige Ärzte und Psychologen gingen allerdings davon aus, dass sich die Sexualität von Soldaten unabhängig von Klassen- und» Rassen«-Zugehörigkeit durch die Brutalität moderner Kriegführung verändern konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Militärärzte bei etwa 600000 Soldaten und Reserveoffizieren unterschiedliche Formen von» Kriegshysterie «oder» Kriegsneurose «diagnostiziert, die sich unter anderem in Impotenz und» Perversionen«(Autoerotik, unkontrollierbare Masturbation, Fetischismus, Homosexualität) niederschlügen.[449] Durch Befragung von Veteranen waren Psychologen wie Paul Plaut 1920 zu dem Ergebnis gekommen, viele Soldaten würden durch die Gewalt abstumpfen und könnten von den emotionalen oder sexuellen Sensationen abhängig werden, die sie bei der Verübung massiver Gewaltakte erfuhren (Tötungslust).[450] Die Wehrmacht beschäftigte sich ebenfalls mit solchen Beobachtungen. 1943 druckte die Medizinische Welt, eine Zeitschrift für» Wehrmedizin«, den Artikel» Sexuelle Probleme im Felde«, der der Verbindung zwischen» männlichem Fortpflanzungstrieb «und» Aggressionstrieb «nachging.[451] Während viele Soldaten im Kampf offenbar (sexuelle) Sensationen verspürten, registrierte der beratende Psychologe beim Heeressanitätsinspekteur zunehmend Fälle, in denen Männer während des Heimaturlaubes über Impotenz klagten.[452] Männliche Sexualität galt mithin als etwas Unheimliches, das selbst in» gesunden«, soldatischen, starken Männern unkontrollierbare Energien entfesseln konnte. Dass der Kriegsgerichtsbarkeitserlass sogar im Vernichtungskampf bei» schweren Taten, die auf geschlechtlicher Hemmungslosigkeit «beruhten, eine Ausnahme von der Straffreiheit vorsah, offenbart die Angst der militärischen Führung davor, im Falle der Koppelung von sexueller Lust mit extremer Gewalt die Kontrolle über die Soldaten zu verlieren.

      Felix Römer hat detailliert dargestellt, dass die Kommandobehörden des Ostheeres im Großen und Ganzen hinter dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass standen, während die Truppenführer bei Aufhebung des Strafverfolgungszwangs einen Disziplinverlust befürchteten, der zur Erosion der Truppe führen würde.[453] Bei der Erläuterung solcher Bedenken spielte sexuelle Gewalt explizit eine Rolle. Der Kommandeur der 134. Infanteriedivision, der den Kriegsgerichtsbarkeitserlass weitgehend unterstützte, betonte fünf Tage vor dem Einmarsch in die Sowjetunion, die Soldaten dürften sich» keine Plünderungen, Notzucht und ähnliche Schweinereien «zuschulden kommen lassen,»denn wer notzüchtigt, kann auch meutern«.[454] Vergewaltigung wurde hier als Ausdruck eines eigensinnigen Verhaltens gedeutet, das dem Gemeinschaftsgedanken des Militärs entgegenstehe. Tatsächlich galten sexuelle Begierden als eine Versuchung, die Männer dazu bringen konnte, sich gegen Befehle aufzulehnen oder sogar zu desertieren.[455]

      Die Führung der 299. Infanteriedivision, die den Kriegsgerichtsbarkeitserlass vergleichsweise restriktiv auslegte, hielt Vergewaltigung ebenfalls für disziplingefährdend:»Disziplin und Manneszucht sind unentbehrliche Grundlagen für den Erfolg. Gegen Verstösse sofort unnachsichtlich einschreiten. Bei Plündern, übermässigem Alkoholgenuss, Vergewaltigungen sofortiges schärfstes Eingreifen.«[456] Der Begriff der» Manneszucht «ging auf die preußische Militärtradition zurück.[457] Ein Mann galt als guter Soldat, wenn ihm» der unbedingte Gehorsam […] zur Gewohnheit geworden «war.[458] Die Fähigkeit zur Unterordnung war nach dieser Vorstellung nicht jedem gegeben und musste ausgebildet und perfektioniert werden.[459] Im Nationalsozialismus wurde dieses Konzept der männlichen (Selbst-)Kontrolle mit der» Volksgemeinschaft «verknüpft; in» Meyers Lexikon «von 1939 hieß es entsprechend, Manneszucht sei» wichtig für Volkserziehung und kriegerische Erfolge«.[460] Diese Verquickung von militärischer und ideologischer Mobilmachung zielte nach Klaus Naumann und Hannes Heer» darauf […], den soldatischen Geist als gesellschaftliche Primärtugend durchzusetzen und so die Volksgemeinschaft in die Wehrgemeinschaft hinüberwachsen zu lassen«.[461] Die Männer, die man als» Fremdvölkische «oder als Juden klassifizierte, waren damit automatisch aus der» Wehrgemeinschaft «ausgeschlossen. Manneszucht galt mithin als wesentliche Bedingung für den militärischen Erfolg,[462] während der männliche Sexualtrieb eine Gefahr darstellte – drohte er doch, den Mann» gegen seinen Willen «zu steuern und ihn seine» Manneszucht «vergessen zu lassen.

      In diesem Sinne befahlen einige Stäbe noch vor Beginn des Feldzugs, sexuelle Ausschreitungen von Soldaten unter keinen Umständen zu tolerieren. Bei der Übermittlung des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses innerhalb des VI. Armeekorps machte der General der Pioniere Otto-Wilhelm Förster den Truppenführern unmissverständlich klar:»Wer plündert, wer vergewaltigt, kommt vor’s Kriegsgericht oder Sondergericht.«[463] In einigen Einheiten wurde bei der Weitergabe des Kommissarbefehls außerdem explizit auf die Gefahr der Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten hingewiesen.[464]

      Ankündigungen wie diese hielten die Männer jedoch offenkundig nicht davon ab, sexuelle Gewalttaten zu begehen. Im August 1941 beklagte das Armeeoberkommando 9»bedenkliche Erscheinungen des Nachlassens der Disziplin«, die sich unter anderem darin ausdrückten, dass Vergewaltigungen merklich» zugenommen «hätten.[465] In einigen Lageberichten ist ebenfalls von