Charlotte Bronte

Shirley (Deutsche Ausgabe)


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komme ich um sieben Uhr wieder. Wünschen Sie, dass ich früher nach Hause komme?«

      »Versuchen Sie lieber um sechs Uhr zurück zu sein. Es ist jetzt noch nicht ganz finster um sechs, aber um sieben ist die Tageshelle völlig vorüber.«

      »Und was hätte ich denn zu befürchten, Caroline, wenn es nicht mehr hell ist? Welche Gefahr meinen Sie denn, die in Begleitung der Finsternis über mich komme?«

      »Ich glaube kaum, dass ich meine Befürchtungen deutlich erklären kann, aber wir alle haben jetzt eine gewisse Ängstlichkeit wegen unserer Freunde. Mein Onkel sagt, dass diese Zeiten gefährlich sind; er sagt auch, dass die Fabrikbesitzer unpopulär sind.«

      »Und ich einer der unpopulärsten? Ist es nicht so? Sie scheuen sich, das offen auszusprechen, aber im Herzen glauben Sie, dass ich Pearsons Schicksal ausgesetzt sei, auf den geschossen wurde – nicht allerdings hinter einer Hecke hervor, sondern in seinem eigenen Haus, durch sein Treppenfenster, als er zu Bett gehen wollte.«

      »Anna Pearson zeigte mir die Kugel in der Kammertür«, bemerkte Caroline ernst, nahm ihren Mantel und legte ihn samt dem Muff auf einen Seitentisch.

      »Sie wissen, es geht eine Hecke längs des ganzen Weges von hier nach Whinbury entlang, und man muss an den Fieldhead-Anpflanzungen vorbei. Aber Sie kommen um sechs Uhr wieder oder noch früher?«

      »Das wird er gewiss«, versicherte Hortense. »Und jetzt, mein Kind, sehen Sie Ihre Aufgaben noch einmal durch, während ich die Erbsen einweiche, zum Püree für das Mittagsessen.«

      Daraufhin verließ sie das Zimmer.

      »Glauben Sie denn, Caroline, dass ich viele Feinde habe?« fragte Mr. Moore: »Und ebenso sicher auch, dass ich wenig Freunde besitze?«

      »Das nicht, Robert. Da sind ja Ihre Schwester und Ihr Bruder Louis – den ich noch nie gesehen habe – und Mr. Yorke, und auch mein Onkel, ach, und gewiss auch noch viele andere.«

      Robert lächelte. »Es würde Ihnen schwer fallen, die vielen anderen zu nennen«, sagte er. »Aber zeigen Sie mir Ihr Aufgabenbuch. Was für außerordentliche Mühe Sie sich doch mit dem Schreiben geben! Zweifelsohne verlangt dies meine Schwester. Sie will Sie gern in allem nach Art eines flämischen Schulmädchens bilden. Wozu ist aber Ihre Zukunft bestimmt, Caroline? Was werden Ihnen Ihr Französisch, Ihr Zeichnen und andere Fähigkeiten helfen, wenn sie erworben sind?«

      »Sie sagen sehr deutlich, wenn sie erworben sind, denn Sie wissen ja, dass ich, bis Hortense ihren Unterricht begann, ungemein wenig wusste. Was übrigens meine Zukunft betrifft, zu der ich bestimmt bin, kann ich Ihnen nichts darüber sagen. Ich bilde mir ein, dass ich meines Onkels Haushalt führen werde«, hier stockte sie.

      »Bis wann? Bis er gestorben ist?«

      »Nein. Wie hart das ist, so zu sprechen! Ich denke nie an seinen Tod, auch ist er erst fünfundfünfzig Jahre alt. Also bis die Verhältnisse andere Beschäftigung für mich bieten.«

      »Eine sehr unbestimmte Aussicht! Sind Sie zufrieden damit?«

      »Früher war ich es wohl. Kinder pflegen, wie Sie wissen, wenig nachzudenken, oder ihr Denken beschränkt sich gewöhnlich auf Wunschvorstellungen. Jetzt aber gibt es Augenblicke, wo ich es nicht ganz bin.«

      »Warum?«

      »Ich kann kein Geld verdienen – nichts erwerben.«

      »Sie kommen auf den Punkt, Lina. Also auch Sie wünschen, Geld zu erwerben?«

      »Allerdings. Ich würde gern eine Beschäftigung haben, und wäre ich ein Knabe, würde ich sie wohl bald gefunden haben. Ich sehe so einen leichten und angenehmen Weg zur Erlernung eines Geschäfts vor mir, wodurch ich mir im Leben weiterhelfen könnte.«

      »Und dies wäre?«

      »Ich könnte Ihr Geschäft, den Tuchhandel, erlernen. Da wir entfernte Verwandte sind, könnte dies bei Ihnen geschehen. Ich würde die Kontor-Arbeit übernehmen, die Bücher halten und Briefe schreiben, während Sie auf den Märkten wären. Ich weiß, dass Sie danach streben, reich zu werden, damit Sie Ihres Vaters Schulden bezahlen können, vielleicht könnte ich Ihnen dabei helfen, reich zu werden.«

      »Mir helfen? Sie sollten doch zuerst an sich selbst denken.«

      »Ich denke auch an mich selbst, aber muss man denn immer nur an sich selbst denken?«

      »An wen denke ich denn sonst? An wen darf ich denken? Der Arme darf nicht viel Mitleid haben. Es ist seine Pflicht, engherzig zu sein.«

      »Nein, Robert, das nicht –«

      »Und doch, Caroline. Armut ist notwendigerweise selbstsüchtig, zurückgezogen, mürrisch und ängstlich. Dann und wann kann wohl auch eines armen Mannes Herz, wenn es gewisse Sonnenstrahlen und Tautropfen besuchen, anschwellen wie an diesem Frühlingstag die knospende Vegetation in diesem Garten, sich reif fühlen, sich in Blätter entfalten – vielleicht in Blüten, aber er darf diesen lieblichen Trieb nicht ermutigen, muss die Klugheit herbeirufen, ihn mit ihrem frostigen Atem zu unterdrücken, der so tödlich ist wie der Hauch des Nordwindes.«

      »Dann könnte ja in keiner Hütte Glück wohnen.«

      »Wenn ich von Armut spreche, meine ich nicht die natürliche, gewöhnliche Armut des arbeitenden Mannes, sondern vielmehr die in Verlegenheit setzende Armut des verschuldeten Mannes. Mir liegt stets ein verkommener, ankämpfender, sorgenvoller Handelsmann im Sinn.«

      »Nähren Sie Hoffnung, nicht Ängstlichkeit. Gewisse Vorstellungen sind bei Ihnen zu fest verwurzelt. Es mag wie Anmaßung aussehen, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich das Gefühl habe, es liege etwas Falsches in Ihren Ansichten über die besten Mittel, Glück zu erreichen; so zum Beispiel in – «

      Sie zögerte.

      »Ich bin ganz Ohr, Caroline.«

      »In – Mut! Lassen Sie mich die Wahrheit offen sagen – in Ihrem Benehmen – bedenken Sie wohl, ich sage nur Benehmen – gegen dieses Yorkshirer Arbeitervolk.«

      »Sie haben mir das schon oft sagen wollen, nicht wahr?«

      »Ja, oft – sehr oft.«

      »Die Fehler meines Benehmens sind, glaube ich, bloß negativ. Ich bin nicht stolz, worauf sollte ein Mann in meiner Lage auch stolz sein? Ich bin bloß schweigsam, gleichmütig und unlustig.«

      »Als ob Ihre lebenden Tuchweber bloße Maschinen wären wie Ihre Rahmen und Scheren! In Ihrem eigenen Haus sind Sie ganz anders.«

      »Weil ich denen, die zu meinem Haus gehören, kein Fremder bin, wie diesen englischen Bauern. Ich möchte gern den Wohlwollenden ihnen gegenüber spielen, aber spielen ist nicht meine Stärke. Ich finde sie unvernünftig und verdorben. Sie hindern mich, das zu erreichen, wonach ich strebe. Indem ich sie gerecht behandle, erfülle ich meine ganze Pflicht gegen sie.«

      »Also erwarten Sie auch keine Liebe von ihnen?«

      »Wünsche sie nicht einmal.«

      »Ach!« sagte die Mahnende, schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Mit diesem Ausruf, der anzeigte, dass sie nicht ganz miteinander einig waren, es aber nicht in ihrer Macht stehe, dies zu erreichen, beugte sie sich über ihre Grammatik und suchte die heutige Regel und Aufgabe.

      »Ich meine kein sehr herzlicher Mensch zu sein, Caroline. Die Zuneigung einiger weniger Personen genügt mir.«

      »Wären Sie wohl so gütig, mir, ehe Sie fortgehen, ein paar Federn zu schneiden?«

      »Lassen Sie mich vor allen Dingen Ihr Buch in Ordnung bringen, denn Sie ziehen stets die Linien schief. … Da, so ist es gut! … Und nun die Federn. Sie wollen sie gern recht scharf, glaube ich.«

      »So wie Sie sie gewöhnlich für mich und Hortense schneiden, nicht so breit wie Ihre eigenen Federn.«

      »Wäre ich jetzt an Louis Stelle, könnte ich zu Hause bleiben und diesen Morgen Ihnen