er wurde dadurch nicht empört, und abermals flüsterte Caroline: »Da sehe ich wieder einen anderen Schimmer von Brüderlichkeit im Irrtum.«
Der Zug gen Rom, das Flehen der Mutter, der lange Widerstand, die endliche Wandlung schlechter Leidenschaften in gute, welche stets der Fall bei einer Natur sein muss, die das Beiwort einer edlen verdient, die Wut des Aufidius gegen das, was er für Schwäche seines Verbündeten hält, Coriolanus Tod, die letzte Sorge seines großen Feindes, all diese aus zusammengedrängter Wahrheit und Kraft gebildeten Szenen folgten einander, und rissen in ihrem tiefen weiten Strom das Herz und den Geist des Hörers und Lesers mit sich fort.
»Haben Sie Shakespeare gefühlt?« fragte Caroline, nachdem ihr Cousin seit etwa zehn Minuten das Buch geschlossen hatte.
»Ich glaube.«
»Und haben Sie in Coriolanus etwas von sich selbst gefühlt?«
»Vielleicht.«
»War er nicht ebenso fehlerhaft wie groß?«
Moore nickte bejahend. »Und was war sein Fehler? Was machte ihn seinen Mitbürgern verhasst? Was veranlasste seine Verbannung durch seine Landsleute?«
»Was glauben Sie wohl, dass es war?«
»Ich frage wieder –
War es der Stolz, der den Glücklichen,
Der ungewohntes Glück beschert, verlockt?
War es Mangel an Verstand den Wechselfällen
Zu unterliegen, deren Herr er war?
War es Natur, nicht mehr als nur ein Ding
Zu sein; vom Helm nicht zu dem Hälmchen sich
Herabzulassen, sondern Frieden mit
Dergleichen Strenge und in selber Art
Anzubefehlen, wie den Krieg er führte?«17
»Schön! Antworten Sie sich selbst, Sphinx.«
»Es war etwas von alldem: Und Sie müssen gegen Ihre Arbeitsleute nicht stolz sein, müssen die Gelegenheiten nicht vernachlässigen, sie zu beschwichtigen, müssen nicht von unbeugsamer Natur sein, und eine Bitte ebenso barsch vorbringen, als ob es ein Befehl sei.«
»Das ist die Moral, die Sie dem Stück entnehmen. Wer setzt Ihnen nur solche Dinge in den Kopf?«
»Der Wunsch für Ihr Bestes, die Sorge für Ihre Sicherheit, lieber Robert, und eine Furcht, die mir vieles verursacht hat, das ich neulich hörte, und das Sie betreffen könnte.«
»Wer hat Ihnen dergleichen Dinge gesagt?«
»Ich höre, was mein Onkel über Sie sagt. Er rühmt Ihren hohen Geist, Ihren entschlossenen Verstand, Ihre Verachtung niedriger Feinde, Ihren Entschluss ›sich nicht mit dem Gesindel einzulassen‹ wie er sagt.«
»Und wünschen Sie, dass ich das täte?«
»Bewahre! Nicht um alles in der Welt! Ich wünsche nicht, dass Sie sich herabwürdigten, aber manchmal kann ich mir doch nicht helfen, es für Unrecht zu halten, dass Sie alle Ihre Arbeitsleute unter dem allgemeinen und beleidigenden Namen des ›Pöbels‹ zusammenfassen, und stets mit Hochmut von ihnen denken und sie auch so behandeln.«
»Sie sind ein kleiner Demokrat, Caroline. Wenn Ihr Onkel das wüsste, was würde er sagen?«
»Ich spreche, wie Sie wissen, selten mit meinem Onkel und nie von solchen Dingen. Er hält alles außer Kochen und Nähen außerhalb des Begriffsvermögens einer Frau.«
»Und bilden Sie sich denn ein, das zu verstehen, worüber Sie mir guten Rat geben?«
»Insofern es Sie betrifft, verstehe ich es! Ich weiß, dass es besser für Sie sein würde, von Ihren Arbeitsleuten geliebt als gehasst zu werden, und bin überzeugt, dass Freundlichkeit Ihre Achtung eher erwirbt als Stolz. Wenn Sie stolz und kalt gegen mich und Hortense wären, würden wir Sie dann lieben? Wenn Sie kalt gegen mich sind, wie es manchmal der Fall ist, kann ich es dann wagen, liebevoll gegen Sie zu sein?«
»Jetzt, Lina, habe ich meine Lektion sowohl über Sprache als auch Moral, samt einem Stückchen Politik erhalten, nun kommen Sie an die Reihe. Hortense sagt mir, Sie wären von einem kleinen Gedicht sehr eingenommen, das Sie neulich gelernt hätten. Ein Gedicht von André Chenier, ›Die junge Gefangene‹. Können Sie es noch auswendig?«
»Ich glaube.«
»So wiederholen Sie es mir doch! Nehmen Sie sich Zeit und geben Sie auf den Akzent acht. Achten Sie darauf, uns keine englisches ›Uhs‹ hören zu lassen.«
Caroline begann mit leisem, fast zitterndem Ton, dann aber nach und nach Mut gewinnend, sprach sie die schönen Verse Cheniers, besonders die drei letzten Strophen, vortrefflich.
»Mon beau voyage encore est si loin de sa fin!
Je pars, et des ormeaux qui bordent le chemin
J’ai passé le premiers à peine.
Au banquet de la vie à peine commencé,
Un instant seulement mes lèvres ont pressé
La coupe en mes mains encore pleine.
Je ne suis qu’au printemps – je veux voir la moisson;
Et comme le soleil, de saison en saison,
Je veux achever mon année,
Brillante sur ma tige, et l’honneur du jardin
Je n’ai vu luire encore que les feux du matin,
Je veux achever ma journée!«18
Moore hörte anfangs mit niedergeschlagenen Augen zu, aber er erhob sie verstohlen. In seinen Sessel zurückgelehnt konnte er Caroline beobachten ohne dass sie bemerkte, wo sein Blick gefesselt war. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten, ihre Züge hatten an diesem Abend einen Ausdruck, die selbst ein unbedeutendes Gesicht ergreifend gemacht haben würden, aber an ihrem Wesen bedurfte es nicht der Verzeihung der Unbedeutsamkeit. Der Sonnenschein strömte nicht auf raue Dürre. Er senkte sich über sanfte Blüte. Jeder Zug war lieblich, der ganze Anblick reizend. In dem gegenwärtigen Augenblick – belebt, eifrig, ergriffen konnte man sie wahrhaft schön nennen. Solch ein Gesicht war dazu bestimmt, nicht allein das ruhige Gefühl der Achtung, oder das entfremdende der Bewunderung zu erregen, sondern ein zärtlicheres, natürlicheres, innigeres: Freundschaft vielleicht, Zuneigung, Interesse. Als sie geendet hatte, wandte sie sich an Moore und erwiderte seinen Blick.
»Ist das nicht vortrefflich hergesagt?« fragte sie lächelnd, wie ein glückliches, gelehriges Kind.
»Das weiß ich wirklich nicht.«
»Wie? Sie wissen es nicht? Haben Sie denn nicht zugehört?«
»Ja und zugesehen. Lieben Sie Dichtkunst, Lina?«
»Ja, wenn ich wirkliche Poesie finde. Ich kann nicht ruhen, bis ich sie dann auswendig gelernt und sie mir so teilweise zu eigen gemacht habe.«
Jetzt blieb Mr. Moore einige Minuten schweigend sitzen. Es schlug neun. Sarah trat ein und sagte, Mr. Helstones Magd sei da, um Miss Caroline abzuholen.
»So ist der Abend schon vorüber«, seufzte sie, »und es wird lange dauern, glaube ich, ehe ich einen anderen hier verlebe.«
Hortense war seit einiger Zeit über ihrem Strickstrumpf nickend in Schlummer verfallen und antwortete nicht auf diese Bemerkung.
»Sie würden also nichts dagegen haben, den Abend öfter hier zu verbringen?« fragte Robert, indem er ihren zusammengelegten Mantel vom Seitentisch nahm, wo er sich noch befand, und ihn sorgsam um sie schlug.
»Ich komme gern hierher, aber ich will nicht aufdringlich sein. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich gebeten werden will. Sie verstehen mich gewiss.«
»Oh,