sah sie ihr eigenes Gesicht und ihre Gestalt im Spiegel. Solche Betrachtungen sind für gewöhnliche Leute ernüchternd. Ihre eigenen Augen sind nicht von dem Bild bezaubert, und folglich sind sie überzeugt, dass es auch für die Augen der anderen reizlos ist. Doch natürlich muss ein schönes Mädchen andere Schlüsse ziehen, ihr Gemälde ist reizend und muss reizen. Caroline sah eine Form, einen Kopf, die in dieser Stellung und mit diesem Ausdruck daguerreotypiert19, lieblich sein mussten. Es war ihr unmöglich, aus diesem Anblick nicht eine Bestätigung ihrer Hoffnungen abzuleiten. So suchte sie denn in unvermindert guter Stimmung ihr Lager auf.
Und in unvermindert guter Stimmung stand sie am nächsten Tag wieder auf und trat in ihres Onkels Frühstückszimmer und wünschte ihm mit sanfter Freundlichkeit einen guten Morgen, sodass dieser kleine eiserne Mann einen Augenblick lang dachte, seine Nichte sei doch ein ›recht hübsches Mädchen‹ geworden. Gewöhnlich war sie still und schüchtern bei ihm, sehr gelehrig, aber nicht mitteilsam. An diesem Morgen jedoch fand sie manches zu besprechen. Es konnten jedoch nur seichte Themen zwischen ihnen angesprochen werden, denn mit einer Frau – einem Mädchen – würde Mr. Helstone keine anderen berührt haben. Sie war früh im Garten gewesen und berichtete ihm, welche Blumen dort schon hervorzusprießen begönnen, fragte, wann der Gärtner kommen und die Hecken stutzen werde, teilte ihm mit, dass gewisse Stare schon ihre Nester im Kirchturm (die Kirche in Briarfield lag nahe an der Pfarrei) zu bauen anfingen, und wunderte sich, dass die Glocken im Turm sie nicht verscheuchten.
Mr. Helstone meinte, »dass sie wie andere Narren wären, die sich auch eben gepaart hätten, ohne zu bedenken, wie unpassend das gerade jetzt sei.« Caroline, die vielleicht durch ihre augenblickliche muntere Laune etwas zu mutig geworden war, riskierte nun auf eine auf nie zuvor gewagte Art eine Erwiderung auf die Bemerkung ihres verehrten Verwandten.
»Onkel!« sagte sie, »So oft Sie vom Heiraten sprechen, sprechen Sie auch mit Verachtung davon. Meinen Sie denn, die Leute sollten gar nicht heiraten?«
»Offenbar ist es das Gescheiteste, ledig zu bleiben, besonders für Frauenzimmer.«
»Sind denn alle Ehen unglücklich?«
»Millionen Ehen sind unglücklich, wenn sich jedermann die Wahrheit eingestehen wollte, sind vielleicht alle mehr oder weniger so.«
»Sie sind stets verdrießlich, wenn Sie ein Paar trauen müssen – warum denn?«
»Weil niemand gerne als ein Mittel zu der Ausführung eines Werkes offenbarer Dummheit dient.«
Mr. Helstone sprach sehr gern so; er schätzte diese Gelegenheit, seiner Nichte über diesen Punkt etwas von seinen Gesinnungen mitzuteilen. Durch die Straflosigkeit, welche bis dahin ihren Fragen zuteil geworden war, ermutigt, ging sie ein wenig weiter:
»Aber warum sollte es denn bloße Dummheit sein? Wenn zwei Leute einander gefallen, warum sollten sie denn nicht miteinander leben wollen?«
»Sie werden einander überdrüssig – im ersten Monat schon. Ein Mitgenosse im Joch ist kein Gefährte – sie oder er werden zu gemeinsamen Duldern im Joch.«
Es war keineswegs naive Einfalt, die Caroline die folgende Bemerkung eingab, es war das Gefühl der Abneigung gegen solche Ansichten und des Missfallens gegen den, der sie hegte.
»Man sollte glauben, Sie wären nie verheiratet gewesen, man sollte Sie für einen alten Hagestolz halten.«
»Praktisch bin ich es auch.«
»Aber Sie waren doch verheiratet. Warum waren Sie so unstandhaft, dies zu tun?«
»Jedermann ist ein- oder zweimal in seinem Leben verrückt.«
»So verleideten Sie meiner Tante das Leben und meine Tante Ihnen, und Sie waren beide unglücklich?«
Mr. Helstone zog seine zynische Unterlippe vor, runzelte seine braune Stirn und stieß ein unartikuliertes Brummen aus.
»Passte sie nicht zu Ihnen? Hatte sie keinen freundlichen Charakter? Gewöhnten Sie sich nicht an sie? Betrübte es Sie nicht, als sie starb?«
»Caroline«, sagte Mr. Helstone, indem er seine Hand langsam bis auf einen bis zwei Zoll vom Tisch herabsinken ließ und damit dann plötzlich auf das Mahagoni schlug, »verstehe mich recht. Es ist gemein und kindisch, Allgemeines mit Speziellem zu vermengen. In jeder Sache gibt es eine Regel, und dann auch wieder Ausnahmen. Deine Fragen sind albern und kindisch. Läute die Glocke, wenn du mit dem Frühstück fertig bist.«
Das Frühstück wurde weggenommen, und als dies geschehen war, war es der allgemeine Brauch des Onkels und der Nichte, sich zu trennen und erst beim Mittagsessen wieder zusammenzukommen. Heute aber ging die Nichte, statt das Zimmer zu verlassen, zu dem Sessel am Fenster und ließ sich dort nieder. Mr. Helstone sah sich zwei- bis dreimal unfreundlich um, als wünsche er sie fort, doch sie sah aus dem Fenster und tat so, als ob sie ihn nicht bemerke. So setzte er denn die Lektüre seiner Morgenzeitung fort – es war gerade eine sehr interessante, da eben neue Bewegungen auf der Halbinsel stattgefunden hatten, und sie enthielt einige Seiten jener langen Depeschen vom General Lord Wellington. Er wusste nicht, welche Gedanken seine Nichte beschäftigten, Gedanken, welche die Unterredung der letzten halben Stunde wiederbelebt, jedoch nicht erzeugt hatten. Es waren unruhige Gedanken, nun aufgestört wie Bienenschwärme, doch sie hatten sich bereits seit Jahren in ihrem Kopf eingenistet.
Sie ließ seinen Charakter, seine Neigungen, seine Ansichten über das Heiraten an sich vorüberziehen. Oft hatte sie dies schon getan und den Spalt zwischen ihrem Geist und dem seinen sondiert, und dann hatte sie wieder auf der anderen Seite des tiefen und breiten Abgrundes eine andere Gestalt stehen sehen und sah sie auch jetzt noch an der Seite ihres Onkels, von sonderbarem Ansehen, düster, finster, beinahe nicht von dieser Welt, das noch halb in der Erinnerung schwebende Bild ihres eigenen Vaters, James Helstone, Matthewson Helstones Bruder.
Gerüchte waren ihr zu Ohren gekommen über den Charakter dieses Vaters; alte Diener hatten Hinweise fallen lassen. Sie wusste, dass er kein guter Mann und nie freundlich gegen sie gewesen war. Sie besann sich – es war eine dunkle Erinnerung – dass sie einige Wochen lang mit ihm irgendwo in einer großen Stadt gewesen war, wo sie keine Magd gehabt hatte, um sie anzuziehen oder für sie zu sorgen, wo sie Tag und Nacht in einer hohen Dachstube eingeschlossen worden war, ohne Teppich, mit einem schlechten Bett, ohne Vorhänge und fast keinen anderen Möbeln. Von dort war er zeitig des Morgens ausgegangen und hatte oft vergessen, wiederzukommen und ihr das Mittags- und Abendessen zu geben. Wenn er jedoch des Nachts wiederkam, hatte er sich oft wie ein Wahnsinniger wütend und fürchterlich aufgeführt, oder – was noch schmerzlicher war – war er wie ein Blödsinniger verstandesschwach und gefühllos gewesen. Sie wusste, dass sie dort krank geworden war und dass in einer Nacht, als sie sehr leidend gewesen war, er wie rasend in das Zimmer gestürzt war und geschrien hatte, er werde sie umbringen, denn sie sei nur eine Last für ihn. Ihr Geschrei hatte jedoch Hilfe herbeigerufen, und sie war von diesem Augenblick an von ihm fortgenommen worden und hatte ihn nie wieder gesehen, außer als Leiche in seinem Sarg.
Dies war ihr Vater. Sie hatte auch eine Mutter, obgleich Mr. Helstone nie von dieser mit ihr sprach, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, sie jemals gesehen zu haben, nur dass sie noch lebte wusste sie. Diese Mutter war also des Trunkenbolds Weib? Wie war ihre Ehe gewesen? Caroline wandte sich von der Öffnung, durch welche sie die Sperlinge beobachtet hatte (ohne sie jedoch zu sehen) und unterbrach mit leiser Stimme und in einem schmerzlichen Ton das Schweigen im Zimmer:
»Ich glaube, Sie betrachten die Ehe als unglücklich, nach dem was Sie bei meinem Vater und meiner Mutter sahen. Wenn meine Mutter das litt, was ich litt, als ich bei meinem Vater war, muss sie in der Tat ein schreckliches Schicksal gehabt haben.«
Mr. Helstone drehte sich bei diesen Worten in seinem Sessel um und blickte seine Nichte durch die Brille an. Er war hinterrücks angegriffen worden.
Ihr Vater und ihre Mutter! Was war ihr eingefallen, Vater und Mutter zu erwähnen, von denen er während der zwölf Jahre, die er mit ihr zusammenlebte, noch nicht mit ihr gesprochen hatte? Dass diese Gedanken aus ihr selbst entstanden, dass sie irgendeine Erinnerung oder Ahnung von ihren Eltern hätte, konnte er sich nicht vorstellen.