ich erinnere mich in etwa wie Papa war und bedauere Mama. Wo ist sie denn?«
Dieses »Wo ist sie?« hatte bereits hundert Mal zuvor auf Carolines Lippen geschwebt, aber bis heute hatte sie es nie ausgesprochen.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Mr. Helstone. »Ich war sehr wenig mit ihr bekannt. Seit Jahren habe ich nichts von ihr gehört. Wo sie aber auch sein mag, sie denkt nicht an dich. Sie hat nie nach dir gefragt. Ich habe Grund, zu glauben, dass sie dich nicht zu sehen wünscht. Komm, es ist Zeit zur Schule. Gehst du denn nicht um zehn zu deiner Cousine? Es hat geschlagen.«
Vielleicht würde Caroline noch etwas gesagt haben, aber Fanny, die eben eintrat, meldete ihrem Herrn, dass ihn der Kirchenvorsteher in der Sakristei zu sprechen wünsche. Er eilte daher zu diesem und seine Nichte begab sich in das Cottage.
Der Weg zur Werkstatt in Hollow’s Mill ging abwärts, daher lief sie fast den ganzen Weg. Bewegung, frische Luft und der Gedanke, Robert zu sehen, wenigstens in seiner Nähe, seinem Gehöft zu sein, belebten ihren etwas gedrückten Geist schnell. Als sie das weiße Haus erblickte und nun die donnernde Mühle und ihren rauschenden Wasserguss hörte, war das erste, was sie sah, Moore an seiner Gartentür. Da stand er in seinem gegürteten holländischen Hemd, auf dem Kopf eine kleine Mütze, die ihm gut zu Gesicht stand. Er sah den Weg hinab, aber nicht in die Richtung, aus der seine Cousine kam. Sie blieb stehen, zog sich ein wenig hinter eine Weide zurück und betrachtete ihn genauer.
»Er hat nicht seinesgleichen«, dachte sie, »er ist ebenso gutaussehend wie klug. Welch eindringlichen Blick er hat! Welch reine Haut, welch geistreiche Züge! Hager und ernst, aber gutaussehend. Sein Gesicht gefällt mir. Er selbst gefällt mir so sehr, besser zum Beispiel als irgendeiner dieser ränkeschmiedenden Hilfsgeistlichen, besser als irgendjemand! Lieber, guter Robert!«
Eilig näherte sie sich dem ›lieben, guten Robert‹.
Was ihn betrifft, so glaube ich, er wäre, als sie in seinen Gesichtskreis kam, vor ihren Augen wie ein Phantom verschwunden, wäre ihm dies möglich gewesen; da er jedoch eine nicht zu übersehende Tatsache und keine Einbildung war, war er genötigt, den Gruß zu erwidern. Er machte es kurz, es geschah brüderlich, freundschaftlich, alles andere, nur nicht wie ein Liebender. Der unaussprechliche Zauber von gestern Abend hatte seinen Einfluss verloren. Er war nicht mehr derselbe Mensch, oder wenigstens schlug nicht mehr dasselbe Herz in seiner Brust. Harte Täuschung, bitteres Leiden! Anfangs wollte das feurige Mädchen nicht an diese Veränderung glauben, obwohl sie dieselbe sah und fühlte. Es war schwer, ihre Hand aus der seinen zu ziehen, bis sie nicht wenigstens etwas wie einen sanften Druck empfunden hatte. Es war schwer, ihre Augen von den seinen zu wenden, bis nicht seine Blicke etwas besseres und innigeres als ein kaltes ›Willkommen‹ ausgedrückt hatten.
Ein Liebender, der sich so enttäuscht sieht, kann sprechen und eine Erklärung verlangen, doch eine Liebende kann nichts sagen; täte sie es, würde der Erfolg Scham und Angst sein und innerlicher Vorwurf wegen Selbstverrat. Die Natur würde eine solche Kundgebung als einen Aufruhr gegen ihre Instinkte brandmarken und ihn später rächend durch den heimlich zerschmetternden Donnerkeil der Selbstverachtung vergelten. Die Sache zu nehmen, wie sie ist, nicht zu fragen, keine Einsprüche zu erheben, das ist das beste Verhalten. Du erwartest Brot und erhieltest einen Stein; brich dir nun die Zähne an diesem aus und schrei nicht auf, weil deine Nerven gefoltert werden, zweifle nicht daran, dass dein geistiger Magen – wenn du so etwas besitzt – stark wie der eines Straußes ist und den Stein verdauen wird. Du streckst die Hand aus nach einem Ei, und es wird dir ein Skorpion hineingelegt. Zeige keine Bestürzung, umschließe diese Gabe fest mit deinen Fingern, lass ihn deine Hand stechen. Sei ruhig, mit der Zeit, nachdem deine Hand und dein Arm angeschwollen sind und lange vor Qual und Schmerz gezittert haben, wird der zerquetschte Skorpion sterben und du wirst die große Lehre, ohne Seufzer zu erdulden, gelernt haben. Wenn du diese Probe überlebst – einige, wie man sagt, sterben an ihr – wirst du für die ganze übrige Zeit deines Lebens, stärker, weiser und weniger gefühlvoll werden. Du wirst es vielleicht nicht gleich bemerken und somit auch keinen Mut aus dieser Hoffnung schöpfen können, doch die Natur ist, wie gesagt, ein vortrefflicher Freund in solchen Fällen, die Lippen zusammenbeißen, die Klage unterdrücken, sich eine ruhige Verstellung vorschreiben, eine Verstellung, die anfangs oft eine unbefangene und heitere Miene trägt und mit der Zeit in Sorge und Blässe übergeht, dann aber vorüberzieht und einen angemessenen Stoizismus hinterlässt, der deshalb, weil er halb bitter, doch nicht weniger kräftigend ist.
Halb bitter! Ist das unrecht? Nein, er sollte bitter sein. Bitterkeit ist Stärke – sie ist ein stärkendes Heilmittel. Sanfte, milde Kraft, die auf heftiges Leiden folgt, findest du nirgends. Von ihr zu sprechen, ist Täuschung. Gefühllose Erschöpfung kann dieser Marter folgen, doch wenn noch Kraft zurückbleibt, wird es eine gefährlichere Kraft sein, ja eine tödliche, wenn sie der Ungerechtigkeit gegenübersteht.
Wer hat die »Ballade von der armen Mary Lee« gelesen? Jene alte schottische Ballade, wer weiß aus welchem Zeitalter und von welcher Hand geschrieben? Mary war schlecht behandelt worden, wahrscheinlich dadurch, dass man sie das für Treue hatte halten lassen, was Falschheit war. Sie beklagt sich nicht, sondern sitzt allein im Schneesturm und gehört ihren Gedanken. Es sind nicht die Gedanken einer mustergültigen Heldin ihrer Verhältnisse, doch es sind die eines feurigen, überaus wütenden Landmädchens. Angst hat sie aus dem vertrauten Winkel ihres Hauses getrieben auf die schneebedeckten, eisigen Hügel. Kauernd unter dem kalten Gestöber, ruft sie sich jedes Bild des Schreckens ins Gedächtnis – ›die gelbgefleckte Eidechse‹, ›die haarige Natter‹, ›den alten, mondanbellenden Hund‹, ›das Grausen um elf Uhr‹, ›den mordsüchtigen Räuber‹. Sie hasst diese alle, aber ›mehr hasst sie Robin-a-Ree!‹
»Ach, glücklich lebt’ ich sonst an jenem Bach,
In Liebe war die ganze Welt mit mir,
Doch jetzt sitz’ ich im Schneesturm, denke nach
Und fluch’, Robin-a-Ree, nun dir!
Drum blase wilder, brennend kalter Wind,
Und wirble auf den immer tieferen Schnee
Und hüll’ in ihn mich armes, armes Kind,
Dass ich die Sonne nicht mehr wiederseh’.
Oh schmelze nicht, du Decke, die zum Lohn
Mir eine Hülle mitleidsvoll verlieh,
Verbirg mich vor dem bitteren Spott und Hohn
Der Buben, schändlich wie Robin-a-Ree!«
Doch was wir auf den letzten Seiten gesagt haben, ist nicht das wahre Gefühl von Caroline Helstone oder der Stand der Verhältnisse zwischen ihr und Robert Moore. Robert hat ihr kein Unrecht zugefügt, er hat sie nicht belogen. Nur sie allein war zu tadeln, wenn irgendjemand zu tadeln war. Die Bitterkeit, die ihr Verstand schuf, sollte und konnte sich nur über ihr eigenes Haupt ergießen. Sie hat geliebt, ohne um Liebe gebeten zu werden – eine natürliche, oft eine unvermeidliche Angelegenheit, doch voller Unglück.
Robert hatte allerdings manchmal in sie verliebt zu sein geschienen – aber warum? Weil sie ihm zu gefallen suchte, konnte er doch nicht, trotz all ihrer Bemühungen, einen Zustand seines Gefühles zeigen wollen, den sein Verstand nicht billigte, sein eigener Wille nicht anstrebte. Er war aufs Bestimmteste entschlossen, alle vertraute Gemeinschaft mit ihr zu vermeiden, weil er weder seine Zuneigung für unlösbar gebunden wissen wollte, noch ungeachtet seiner Vernunftgründe, zu einer Heirat veranlasst werden wollte, die er für unklug hielt. Was war aber nun zu tun? – Sollte sie ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, oder sie besiegen? Sollte sie diesen Lauf verfolgen, oder zu sich selbst zurückkehren? Ist sie schwach, wird sie Ersteres versuchen – seine Achtung verlieren und seine Abneigung gewinnen. Ist sie jedoch klug, wird sie sich selbst beherrschen und die gestörte Herrschaft ihrer Gefühle wieder zurückgewinnen und in die richtigen Bahnen lenken. Sie wird sich entschließen, fest auf das Leben zu blicken, wie es ist, dessen strenge Wahrheiten mit Ernst zu lernen und seine verwickelten Aufgaben näher und gewissenhaft zu studieren.
Es schien, als ob sie tatsächlich so klug wäre, denn sie verließ Robert ruhig, ohne Klage oder