Roy Palmer

Seewölfe Paket 19


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der Insel führte. Jerry überlegte nicht lange und entschied sich für diesen Pfad. Wohin er auch immer führen mochte – er wurde von Menschen benutzt und mußte demzufolge eine Bestimmung haben.

      Sie zogen die Entermesser, denn mit bösen Überraschungen war jetzt eher zu rechnen. Wieder übernahm der Kapitän der „Tortuga“ die Spitze seines Trupps. Beim Vordringen wurde nach allen Seiten gesichert. Mit zunehmender Vegetation setzten sehr bald auch Geräusche ein. Die Tierwelt im Dickicht beiderseits des Pfades kümmerte sich nicht um den menschlichen Lebensrhythmus und gab auch zu dieser späten Stunde keine Ruhe.

      Der Schatten tauchte so plötzlich hinter einer Wegbiegung auf, daß selbst Jerry Reeves erschrak.

      Er prallte mit dem Mann zusammen, der einen entsetzten Quieklaut ausstieß. Jerry reagierte dennoch blitzschnell. Mit der Linken packte er zu, riß die Gestalt herum, umklammerte sie und preßte ihr die Klinge des Entermessers an die Kehle.

      Der andere begann zu zittern.

      „Wer bist du?“ zischte Jerry. „Was hast du hier zu suchen?“ Da es sich nicht um einen Mann der Geschützbedienungen handelte, war nicht von vornherein anzunehmen, daß er aus den Reihen der Black Queen stammte.

      „Mei-mein Name ist – Emile Boussac“, wisperte der andere mit vibrierender Stimme.

      Jerry horchte auf.

      „Boussac?“ flüsterte er erstaunt. „Der Schankwirt aus El Triunfo?“

      „Ja, der bin ich. Aber woher …?“

      „Du hast zwei Freunden von uns geholfen. Wenn du vernünftig bist, lasse ich dich los.“

      „Ich war schon immer ein vernünftiger Mensch“, versicherte der Franzose eilfertig. „Die beiden Freunde, von denen du gesprochen hast, waren das etwa Monsieur Ribault und sein schweigsamer Begleiter?“

      „So ist es.“ Jerry Reeves löste seinen Griff.

      Emile Boussac atmete erleichtert auf und strich seine Kleidung glatt. Stoker schob sich vorbei, um die Sicherung nach vorn zu übernehmen. Am Schluß der kleinen Marschformation war Gustave Le Testu auf dem Posten.

      „Die Kanonenschüsse“, hauchte Boussac, „und jetzt ihr, heimlich, still und leise! Die Black Queen ist in Aufruhr – alles zusammen bedeutet doch wohl, daß ein Angriff bevorsteht.“

      „Mir ist lieber, wenn ich es bin, der die Fragen stellt“, entgegnete Jerry Reeves. „Dir passiert nichts, wenn du uns erzählst, wie die Lage auf Tortuga ist.“

      „Warum denn nicht?“ sagte Emile Boussac leichthin. „Ich stehe doch eher auf eurer Seite.“ Mit einem nicht endenden Wortschwall berichtete er zunächst, daß er in der Berglandschaft herumgeschlichen sei, um das eingezäunte Lager zu suchen, in das man seine bedauernswerten Mädchen gesperrt habe.

      Aus dem weiteren Redefluß des drahtigen Franzosen notierte Jerry Reeves nur das Wesentliche in seinem Gedächtnis. Nach dem Geschützdonner, der von der Nordseite der Insel herübergeweht war, hatte die Black Queen sofort alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Der Zweidecker und die „Aguila“ waren klar zum Auslaufen, während die „Vascongadas“ offenbar die Verteidigung der Hafenbucht übernehmen sollte.

      Die Siedler um Willem Tomdijk hatten sich allesamt in den Grotten der Kneipe „Zur Schildkröte“ versammelt. Sie hatten beschlossen, sich aus allem herauszuhalten.

      Jerry Reeves war mehr als zufrieden, dies zu hören. Der Unsicherheitsfaktor, der dem Seewolf am meisten Kopfzerbrechen bereitet hatte, war damit aus der Welt geräumt. Es bedeutete kein Problem mehr, die Unbeteiligten aus den Kampfhandlungen herauszuhalten.

      Die Leute aus El Triunfo waren in der „Schildkröte“ in Sicherheit. Und die Pariserinnen waren von der Black Queen selbst in Sicherheit gebracht worden, ohne daß die Schwarze dies vermutlich jemals beabsichtigt hatte.

      „Sehr gut“, sagte Jerry, als der andere seine heruntergehaspelte Schilderung beendete. „Wenn du auf unserer Seite stehst, kannst du uns jetzt noch einen Gefallen tun. Kennst du dich auf Tortuga schon einigermaßen aus?“

      „Ich habe mir alle Plätze angesehen, wo man vielleicht eine zweite Kneipe einrichten könnte.“

      „Wir brauchen mindestens zwei Einmaster“, sagte Jerry, „und zwar so, daß niemand etwas davon mitkriegt.“

      Die Augen Emile Boussacs leuchteten verstehend in der Dunkelheit. Mit einem erneuten Wortschwall versicherte er nach kurzem Nachdenken, daß er genau die richtige Stelle wüßte.

      In der Tat erwies sich die Behauptung des Franzosen als nicht übertrieben. Auf Schleichwegen führte er die Männer von der „Tortuga“ zu einer abseits gelegenen kleinen Bucht. Mehrere Einmaster lagen dort vertäut. Die Eigentümer hatten sich ohnehin aus den nahen Hütten zurückgezogen und im Inneren der Insel verkrochen.

      Jerry Reeves entschied sich für zwei Pinassen, auf die er seine Männer verteilte. Boussac entließ er, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, kein Wort über die nächtliche Begegnung zu verlieren. Minuten später wurden die Leinen der beiden Einmaster gelöst und die Segel gesetzt. Außerhalb der Bucht gingen sie sofort auf Nordkurs.

       8.

      Rings um die Hafenbucht von Tortuga war es still geworden. Auch hier hatten sich die Bewohner der Hütten zurückgezogen. Sie waren aus Erfahrung klug geworden. Oft genug war in der letzten Zeit die wahre Hölle losgebrochen. Wer auch immer sich in der Bucht oder vor der Bucht Gefechte lieferte – man konnte nie wissen, ob nicht einmal eine volle Breitseite versehentlich an Land einschlug.

      Emile Boussac empfand leises Unbehagen, als er sich durch die unbefestigten Gassen der Bucht näherte. Die Leute waren vernünftiger als er. Die meisten von ihnen hockten wahrscheinlich zusammen mit Willem Tomdijk und seiner Anhängerschar bei Diego in der „Schildkröte“. Oder sie hatten sich andere beschauliche Plätze in einem sicheren Gebiet der Insel ausgesucht.

      Emile sagte sich, daß er ein verdammter Narr war, jetzt noch zur Bucht zu gehen. Aber da war eine seltsame Art von Jagdfieber, das ihn gepackt hatte. Die Jagd nach Informationen konnte unter Umständen wichtiger sein als ein Gefecht auf See. Das begriff er jetzt, nachdem er den Freunden Jean Ribaults sein Wissen preisgegeben hatte.

      Wußte er denn, ob nicht vielleicht ein zweites geheimes Landeunternehmen stattfand? Vielleicht konnte er noch einmal mit wichtigen Nachrichten zu Diensten sein. Möglich auch, daß sich so etwas auszahlte, wenn nicht in klingender Münze, dann doch auf die eine oder andere lohnende Weise.

      Emile Boussac, der kleine Schankwirt aus El Triunfo, empfand plötzlichen Stolz darüber, wie bedeutend seine Person geworden war – und noch werden konnte. Nur durch die Weitergabe seines Wissens trug er vielleicht entscheidend zur Entwicklung des Geschehens auf Tortuga bei.

      Verblüfft verharrte er, als er den Strand erreichte.

      Alle drei Schiffe lagen noch in der Bucht – die „Caribian Queen“ die „Aguila“ und die „Vascongadas“. Das Laternenlicht enthüllte hektisches Treiben auf den Decks. Kisten und Fässer wurden aus längsseits liegenden Schaluppen und Pinassen an Bord gehievt. Zweifellos handelte es sich um Munitionsvorräte, die in die Pulverkammern verfrachtet wurden.

      Die Black Queen mußte also einen Schiffsausrüster aufgetrieben haben, der sich bereit erklärt hatte, sie zu beliefern. Auf Tortuga, soviel hatte Emile Boussac mittlerweile begriffen, war das Unmögliche möglich. Hier gab es die denkwürdigsten und unvermutetsten Vorratsquellen. Man mußte nur dem richtigen Mann den richtigen Preis zahlen, dann gab es nichts, was man nicht erhalten konnte.

      In seinem Hinterkopf notierte Emile Boussac die Tatsache, daß sich die Black Queen mit zusätzlicher Munition versorgt hatte, eine wichtige Erkenntnis, die vielleicht für die gegnerische Seite noch von Bedeutung war.

      Er ging ein paar Schritte weiter und stutzte, als er eine kleine Jolle an einem der Stege liegen sah. Solche Beiboote wurden nur an Bord der großen