„Das geht nicht. Sie können doch nicht so ans Telefon gehen. Was sollen die Leute denn denken? Das sie besoffen sind? Zu gedröhnt sind oder sowas? Was ist los mit ihnen?“ sagte Josie entrüstet.
Sie bekam keine Reaktion, denn Leonard schien gerade auf einem ganz anderen Planeten zu sein. Erst nach einigen Minuten berappelte er sich wieder und sah sie zerknirscht an.
„Schuldigung“, murmelte er leise. Er setzte sich auf, ordnete sein Haare und seinen Anzug.
„Was ist los mit ihnen?“ fragte Josie erneut.
Er wich ihrem Blick aus und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus. Ihm war klar, dass sie auf eine Erklärung wartete.
„Nichts, nichts. Alles gut. Mein Kreislauf ist im Keller, ich habe die letzten Tage zu wenig geschlafen und gegessen… ich war das Wochenende klettern… war ziemlich anstrengend und dazu die Höhenluft… keine Ahnung“, stammelte er dann unsicher.
Josie wusste, dass er log. Sie schnaufte nur. „Ah, klettern, sicher? Wenn das so aufs Gehirn und Kreislauf schlägt, sollten sie mal über einen Alternativsport nachdenken.“
Zack, das hatte gesessen. Mit offenem Mund starrte Leonard Josie nun sprachlos an.
Sie merkte sofort, dass sie den Bogen überspannt hatte. Ihr Puls schoss in die Höhe. „Entschuldigung. Es tut mir leid. Es geht mich auch nichts an. Aber vielleicht fahren sie besser nach Hause und erholen sich etwas… Also, lassen sich nach Hause fahren und fahren nicht selber“, korrigierte sie schnell.
Leonard starrte sie noch immer an. Doch Josie war sich inzwischen nicht mehr sicher, dass er noch wusste, ob er nun sauer war oder nicht. Zu ihrer Überraschung stand er wirklich auf, suchte seine Sachen zusammen und verließ das Büro.
„Bis morgen“, murmelte er nur noch und verschwand.
Josie hoffte, dass er sich nicht in seinen Wagen setzte und selber fuhr.
Umso überraschter war sie dann, als eine knappe Stunde später Julian ins Büro kam und eine Mischung aus besorgt und amüsiert war.
„Ich habe ihn nach Hause gefahren. Irgendwie war er ja ziemlich durch den Wind. Er meinte, du hättest ihn nach Hause geschickt, weil er am Telefon keinen Plan mehr hatte, wegen Kreislauf und so…“, erklärte Julian mit einem verschmitzten grinsen. „… naja. Jedenfalls wars wohl besser so, wenn er hier nichts auf die Reihe bekommt.“
Josie sah Julian mit gerunzelter Stirn an. „Ich hätte sich fast total blamiert, weil er am Telefon nur noch zusammenhangloses Zeug gestammelt hat. Was stimmt mit ihm nicht? Das er so daneben ist? Trinkt er? Nimmt er Drogen? Irgendwelche Medikamente?“
Julian schnaufte leise. „Nein. Quatsch. Denk jetzt blos nichts Falsches von ihm. Normal ist er ja nicht so. Kam vielleicht wirklich vom Klettern. Ein paar Tage unter so extremen Bedingungen, extreme Belastung, wenig schlaf, wenig essen, dazu die Höhe… kann schon sein.“
Josie verzog das Gesicht. „Sicher Julian. Vom Klettern. Ich habe ne ganze Weile mit gewissen Klienten gearbeitet. Also erzählt mir doch keinen Scheiß… von wegen klettern und so.“
Natürlich glaubte Josie auch Julian kein Wort.
Dafür tat Leonard am nächsten Tag so, als wäre nichts gewesen. Er war auch so wie immer und schien wieder ganz fit zu sein. Zeit, um zu reden blieb auch nicht, da sich an diesem Tag ein Meeting an das andere reihte. Und hier lief Leonard wieder zu seiner bekannten Hochform auf. Souverän und kompetent leitete er die Besprechungen und Präsentationen. Sein Charisma füllte den Raum und alle hörten ihm gespannt zu, wie er professionell stundenlang reden und erklären konnte.
Nur Dirk hatte es wieder auf Konfrontationen angesehen und versuchte Leonard zu jeder Gelegenheit rein zu grätschen. Doch auch das konterte Leonard wie immer gekonnt entspannt.
Am Ende der Präsentation packte Leonard seine Sachen zusammen, als Dirk noch am Tisch saß und ihn argwöhnisch beobachtete. Julian und Josie halfen dabei, die Tische im Besprechungsraum aufzuräumen und die Getränkeflaschen in die Kisten zu sortieren.
„Mal wieder ein hartes Wochenende gehabt von Wartenberg? War ja ein kurzer Arbeitstag gestern?“ meinte Dirk provokativ.
Leonard hielt inne und sah Dirk direkt an. „Während du vermutlich erfolglos im Oanser Champagner geschlürft hast, hab ich nen dreieinhalbtausender bestiegen. Na? Und wer war da wohl erfolgreicher im Thema?“ Konterte Leonard cool.
Dirk verzog das Gesicht und stand auf. „Als wenn dir die Sportnummer noch irgendwer hier abnimmt? Ich weiß genau, was du so treibst, ebenso erfolglos vermutlich…“, raunte er Leonard im Vorbeigehen dann zu. „… also hab nicht so eine verdammt große Fresse, Wartenberg.“
Leonard sah Dirk scharf an. „Ich kann mir die große Fresse aber erlauben. Ganz im Gegensatz zu dir.“
Schnaufend verließ Dirk den Raum.
Julian und Josie sahen Leonard an und der schien sich deutlich unwohl zu fühlen.
Plötzlich legte er die Ordner, die er in der Hand hatte, wieder ab und knöpfte sein Hemd auf.
Julian und Josie sahen ihn nun noch fragender und erstaunt an.
Leonard öffnete sein hellblaues langärmeliges Hemd und trug darunter noch ein weißes enganliegendes Kurzarmshirt. Auf dem rechten Arm sah Josie nun ein großes schwarzes Azteken Tattoo das bis kurz vor dem Ellbogen ging. Um den Unterarm war ein Verband gewickelt, den Leonard nun schnell abwickelte.
Julian verzog das Gesicht, als er die blutigen Abschürfungen sah, die nun zum Vorschein kamen und die gesamten Unterarminnenseite großflächig umfassten.
„So, das war eine Felskannte von der Wildspitze im Ötztal, 3768 Meter. Ihr könnt auch gerne den Felix anrufen, das ist mein Kletterpartner, der war auch mit. Nur so viel zu den scheiß Gerüchten, die hier ständig so fleißig verbreitet werden. Und das gestern war wirklich nur eine ungünstige Mischung aus zu wenig schlaf, zu wenig essen, zu vielen, zu starken Schmerzmitteln, der Höhe in so kurzer Zeit und jede Menge Stress.“
Josie spürte, wie sie rot wurde, vor Scham, weil sie Leonard wirklich unrecht getan hatte.
Julian kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich hab nie was gesagt, oder?“
Leonard sah ihn an. „Ach komm Julian. Wir kennen uns schon lange. Ich weiß genau was du denkst.“
Ohne ein weiteres Wort packte Leonard seine Ordner wieder zusammen und verließ den Raum.
Als Josie wenig später ins Büro kam, saß er am Schreibtisch und versuchte etwas umständlich mit der linken Hand seinen rechten Unterarm wieder neu zu verbinden. Was natürlich nicht so einfach war.
„Kann ich helfen?“ fragte sie ihn und schloss die Tür hinter sich.
Leonard sah sie an und schüttelte den Kopf. „Danke, geht schon.“
Josie sah ihm eine Weile zu, wie er etwas unbeholfen versuchte den Verband vernünftig zu wickeln. Dann ging sie einfach zu ihm hin, nahm den Verband aus seiner Hand und wickelte ihn etwas ab, um ihn dann ordentlich um die Wundauflage zu wickeln. Ihr Finderspitzen berührten sich dabei und es war wie ein kleiner Blitz, der sie durchzuckte.
„Danke“, meinte Leonard nur und ein winziges Lächeln huschte über seine Lippen.
Leonard von Wartenberg war und blieb ein Mysterium. Zwar ein verdammt attraktives und gut aussehendes, aber er gab absolut nichts von sich preis.
Gegen Mittag, kurz vor zwölf, klopfte es an der Bürotür und eine Frau kam herein. Sie war recht groß, schlank, und vermutlich um die Ende vierzig. Ihre langen blonden Haare hatte sie elegant hoch gesteckt und ihr Erscheinungsbild war sehr gepflegt. Sie trug ein beiges Kostüm und ein leichtes Makeup.
„Hallo“, begrüßte sie Leonard und Josie lächelnd. Sie ging direkt auf Josie zu und gab ihr die Hand. „Katharina von Wartenberg“, stellte sie sich freundlich vor. „Josephine Wagner, freut mich sehr“, sagte Josie höflich. Das war also Leonards Mutter, so ganz anders als Josie sie sich bisher vorgestellt hatte. Sie strahlte unheimliche Sympathie